Ein Jahr Lageso-Krise in Berlin: Eine schreckliche Bilanz
Die unhaltbaren Zustände vor dem und im Lageso seit dem vergangenen Sommer markieren einen Tiefpunkt der Großen Koalition aus SPD und CDU.
Man kann es wirklich knapp machen: Die desolate Bilanz der rot-schwarzen, vermeintlich großen Koalition, die Berlin seit dem Dezember 2011 regiert, sie lässt sich ohne Weiteres auf zwei Abkürzungen reduzieren. Lageso. BER.
Die leidige Pannengeschichte der Flughafenbaustelle hat gezeigt, wie das Wunschdenken der verantwortlichen Politiker im Senat zusammen mit ihrer offensichtlichen Unfähig- oder Untätigkeit Mehrkosten in Milliardenhöhe verursachten. Zudem haftete Berlin plötzlich das Image als Hauptstadt der Unfähigen an.
Noch erschreckender, noch beklemmender waren die Bilder, die von der Erstaufnahmestelle des Landesamtes für Gesundheit und Soziales – kurz Lageso – in der Moabiter Turmstraße seit August vergangenen Jahres um die Welt gingen. Denn in diesem Fall ging es um das Schicksal von Menschen, die geflohen sind, oftmals vor dem Schrecken von Krieg und Terror. Die viel zurücklassen mussten und teils schwer traumatisiert Berlin erreichten.
Hier angekommen, mussten jedoch Hunderte tage- und nächtelang ausharren, unter sengender Sonne, notdürftig mit Wasser und Lebensmitteln versorgt, um überhaupt nur in der fiesen Mühle der Berliner Bürokratie landen zu können. Wenn schon der Empfang in einem angeblich so zivilisierten Land derart menschenunwürdig ist – was bitte soll dann noch kommen?
Auch bei diesem Desaster spielte offensichtlich die Kombination aus Wunschdenken, Unfähig- und Untätigkeit der verantwortlichen Politiker die wesentliche Rolle. Erst verdrängte der zuständige Sozialsenator Mario Czaja den drohenden Kollaps seiner Verwaltung; als dieser dann eingetroffen war, ignorierte er ihn. Der CDU-Mann vermittelte in keiner Phase der Krise auch nur ansatzweise den Anschein, sich der desolaten Zustände in der Turmstraße annehmen zu wollen.
Es ist ein Skandal, dass dieser Politiker, der einer dem Namen nach christlich orientierten Partei angehört, am Ende der Legislatur noch immer im Amt ist. Er war unfähig, Lösungen für – zugegebenermaßen keine kleinen – Probleme zu erarbeiten, und er wollte auch nicht die Verantwortung für sein Scheitern übernehmen.
Warum hat ihn sein Chef nicht entlassen? Oder besser: Warum hat sich keiner seiner beiden Vorgesetzten getraut, das zu tun?
Michael Müller, der Regierende Bürgermeister, hat Czaja in einer viel beachteten Rede im Abgeordnetenhaus zwar den Rücktritt nahegelegt. Den Sozialsenator schlicht und einfach rauszuwerfen hat er sich jedoch nicht getraut. Müller wollte den Preis nicht zahlen, die Koalition damit voraussichtlich platzen zu lassen. Lieber riss der Regierende die Aufgabe an sich und erklärte den Umgang mit den Flüchtlingen zur „Chefsache“. Hätte er das bei allen Themen gemacht, die im Senat nicht bearbeitet werden, die CDU-Senatoren hätten ganz offiziell nichts tun müssen.
Auch CDU-Chef und Innensenator Frank Henkel hätte Czaja zumindest faktisch das Amt entziehen und Müller einen besseren Kandidaten vorschlagen können. Es liegt nahe, dass es in der CDU keinen besseren gab – oder keiner den Job machen wollte. Und so hat sich auch der Innensenator weggeduckt, in zu diesem Zeitpunkt bereits bewährter Manier.
Eigentlich unglaublich, aber diese rot-schwarze Koalition hat nun fast fünf Jahre lang regiert. Kurz vor ihrem offiziellen – und hoffentlich auch faktischen – Ende hat Michael Müller noch versucht, mit Kritik an den Überbringern der schlechten Nachrichten gegen das miese Image der Stadt vorzugehen. „Wer nur das Negative sieht und nicht die Erfolge würdigt, der schwächt unser solidarisches Gemeinwesen“, sagte er in seiner Regierungserklärung im Juni. Er wolle nichts schönreden oder verleugnen, sondern schlicht „die Waage halten“.
Aber ein Versagen der politischen Exekutive wie am Lageso und am BER ist so leicht nicht aufzuwiegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind