Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Wendepunkte des Krieges
Vom Sturm auf Kyjiw zum Stellungskrieg: Wie sich der Krieg immer wieder veränderte – und damit die Prognosen über den Verlauf.
Der Kriegsbeginn
Kurz vor 6 Uhr morgens überfällt Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine. Von Belarus, aus dem Osten und von der Krim rücken Bodentruppen vor. Mit Raketen und Kampfjets werden militärische Einrichtungen beschossen.
Russlands Hauptziel in den ersten Tagen: die Hauptstadt Kyjiw erobern und die ukrainische Regierung absetzen. Wolodimir Selenski soll nach Geheimdienstberichten auf einer Todesliste russischer Spezialkräfte stehen. Fallschirmjäger versuchen den Flughafen Kyjiw-Hostomel einzunehmen. Viele Experten gehen davon aus, dass die Ukraine nicht lange Widerstand leisten kann. Der Politologe Herfried Münkler sagt am Tag des Angriffs im Interview mit Zeit Online: „Die Ukraine ist verloren.“ Und: „Militärisch dürfte die Sache in ein paar Tagen gelaufen sein.“
Deutschland schickt am 25. Februar mit zwei Lastwagen 5.000 Helme in die Ukraine. Die Lieferung war bereits vor Kriegsbeginn zugesagt worden. Bei einer Sondersitzung im Bundestag spricht Olaf Scholz von einer „Zeitenwende“ und kündigt an, die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro Sondervermögen aufzurüsten.
Der Kampf um Kyjiw
Die Kontrolle über den Flughafen Hostomel wechselt in den ersten Tagen mehrmals hin und her. Obwohl sich die russischen Truppen Ende Februar auf dem Gelände festsetzen können, ist die Gefahr ukrainischer Gegenangriffe zu groß, als dass Hostomel als russische Basis dienen könnte. Der schnelle Coup ist gescheitert. Die Russen müssen alle Truppen über den Landweg heranführen. Sie versuchen Kyjiw einzukreisen, schaffen es aber nie, den Ring um die Stadt zu schließen.
Auf dem Weg nach Kyjiw staut sich ein über 60 Kilometer langer Fahrzeugkonvoi. Der ukrainischen Armee gelingt es, die Russen vom Nachschub abzuschneiden. In den ersten zwei Monaten des Kriegs liefern die USA 5.500 Javelin-Panzerabwehrwaffen an die Ukraine. Hunderte russische Panzer werden durch sie zerstört.
Am 29. März verkündet Russland, seine Truppen um Kyjiw zurückzuziehen. Man werde die Angriffe auf den Osten und Süden der Ukraine konzentrieren. Am 2. April erklären die ukrainischen Behörden, dass die Region Kyjiw wieder unter ihrer Kontrolle ist. In Butscha werden nach dem Abzug über 300 tote Zivilisten entdeckt, teils in Massengräbern, teils auf der Straße liegend, in den Kopf geschossen. Die russische Armee hat hier Kriegsverbrechen verübt.
Die Bilder aus Butscha sorgen weltweit für Entsetzen. Olaf Scholz kündigt weitere Waffenlieferungen an und sagt: „Es muss unser Ziel sein, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt.“
Russische Offensive im Süden und Osten
Mit großer Feuerkraft und Brutalität auch gegenüber Zivilisten erzielt die russische Armee langsame Fortschritte im Süden und Osten der Ukraine. Bei einem russischen Raketenangriff auf einen Bahnhof in Kramatorsk sterben über 50 Zivilisten, die dort auf Züge in den Westen gewartet hatten.
Am 21. Mai verkündet Russland nach wochenlanger Belagerung die Einnahme des Asow-Stahlwerks mit seinem unterirdischen Tunnelsystem. Etwa 2.500 ukrainische Kämpfer kommen in Kriegsgefangenschaft. Die Hafenstadt Mariupol ist damit in russischer Hand.
Anfang Juli erobern russische Soldaten die Städte Sewerodonezk und Lyssytschansk. Damit bringen sie die Donbass-Region Luhansk komplett unter ihre Kontrolle. In den eroberten Gebieten werden russische Pässe ausgegeben und der Rubel als Zahlungsmittel eingeführt.
Ukrainische Gegenoffensive
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die Ukraine beginnt eine Offensive in den Regionen Cherson und Charkiw. In der Gegend um Charkiw befreit sie innerhalb weniger Tage große Gebiete, die russischen Truppen ziehen sich fluchtartig zurück. Eine entscheidende Rolle für die Offensive spielen die seit Juni gelieferten amerikanischen Himars-Raketenwerfer, mit Raketen, die bis zu 80 Kilometer weit fliegen und satellitengestützt ihr Ziel finden.
Die Ukraine hat damit die Offensive wochenlang vorbereitet, indem sie russische Stützpunkte weit hinter der Front zerstörte. Im Sommer hatte die russische Armee verkündet, mehr Himars-Laster zerstört zu haben, als die Ukraine überhaupt geliefert bekommen hatte. Es stellte sich heraus, dass die russischen Jets auf Holzattrappen des Raketenwerfers geschossen hatten.
Als Reaktion auf die ukrainische Offensive verkündet Wladimir Putin eine Teilmobilmachung, 300.000 neue Soldaten sollen rekrutiert werden. Tausende junge Männer reisen aus, Flüge nach Istanbul sind ausgebucht. In Russland sprechen erste hochrangige Politiker von einem „Krieg“ statt von einer Spezialoperation. Bei einer Zeremonie im Kreml am 30. September erklärt Putin, dass die Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja fortan zu Russland gehörten.
Wiederholt droht er mit dem Einsatz von Atomwaffen. „Direkt, privat und auf sehr hohen Stufen“ habe das Weiße Haus dem Kreml mitgeteilt, dass jeder Einsatz von Atomwaffen katastrophale Folgen für Russland habe werde, sagt der nationale Sicherheitsberater der USA, Jack Sullivan, daraufhin Anfang Oktober. Auch der chinesische Präsident Xi Jinping betont Anfang November, die internationale Gemeinschaft müsse die Drohung mit Atomwaffen ablehnen.
Am 11. November befreien ukrainische Truppen die Stadt Cherson, die einzige Hauptstadt einer Region, die Russland nach dem 24. Februar erobern konnte. Nun wird von internationalen Beobachtern ein Sieg der Ukraine in Betracht gezogen.
Der Historiker und Ukraine-Experte Timothy Snyder rechnet nun mit einer „Niederlage Russlands in der Ukraine, die in einen russischen Machtkampf übergeht, der einen russischen Rückzug aus der Ukraine erfordert“. Grund dafür sind die öffentliche Kritik am russischen Kurs in der Ukraine von Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow und dem Chef der Wagner-Truppe Jewgeni Prigoschin.
Der Winterkrieg
Der einbrechende Winter verändert den Krieg. Im Osten entwickelt sich ein Stellungskrieg mit wenig Verschiebungen. Nun konzentriert Russland seine Angriffe auf die Infrastruktur der Ukraine, besonders auf Heizkraftwerke und Stromversorgung. Am 5. Dezember schießt die Armee 70 Raketen aus weiter Entfernung, teils von Schiffen im Schwarzen Meer. In der Hafenstadt Odessa fällt nach einem Stromausfall die Wasserversorgung aus, in der Industriestadt Krywyj Rih die Fernheizung. In der Region Kyjiw sind 40 Prozent der Menschen ohne Strom. Elektrizität wird nun rationiert, die UkrainerInnen müssen sich mit Generatoren versorgen und in Wärmestuben aufwärmen.
Nach zähen Verhandlungen entscheidet Olaf Scholz Ende Januar, nun doch Kampfpanzer vom Typ Leopard an die Ukraine zu senden.
Wie geht es weiter?
Es mehren sich Anzeichen, dass Russland eine neue Offensive beginnt. Der ehemalige Leiter der CIA, David Petraeus, sagt in einem Interview mit der CNN, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen werde. Er rechnet mit einem Sieg der Ukraine.
Für das Frühjahr wird auch eine ukrainische Offensive erwartet. Die meisten Militäranalysten gehen davon aus, dass die Ukraine versuchen wird, in einer Stoßbewegung zum Asowschen Meer vorzurücken. Wenn ihr das gelänge, würde das russisch besetzte Gebiet in zwei Teile zerschnitten – und die russische Armee hätte extreme Probleme, ihre Truppen weiter mit Nachschub und Munition zu versorgen. Eine andere Möglichkeit könnte sein, dass die Ukraine die Krim verstärkt ins Ziel nimmt. Das Kalkül: Wenn Wladimir Putin klar werden würde, dass er die Krim verlieren könnte, wäre er eher zu Verhandlungen und Zugeständnissen bereit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos