Ein Imbiss und seine Geschichte: Hochpolitisches Hühnchen
Kann man ganz unbedarft in ein Fried-Chicken-Sandwich beißen? Darin steckt einiges an Historie. Eine Zeitreise bis ins 17. Jahrhundert.
Das Brötchen ist aus Brioche-Teig, die Bio-Hühnchenteile werden mit einer Mehl-Gewürzmischung paniert, zweifach frittiert und mit einer Glasur aus reduzierter Hühnerbrühe, Kümmel und geräucherter Paprika bestrichen. Das Topping ist ein hausgemachter Coleslaw. Dazu empfohlen werden Naturweine, ihre elegante Trockenheit ist ein wohltuender Kontrast zu den würzigen Hähnchenteilen in dem luftig-süßlichen Brot.
So raffiniert ist ein Fried-Chicken-Sandwich selten aufgetreten. Verkauft wird es, aktuell natürlich nur zum Mitnehmen, im „Barra“ in Berlin-Neukölln. Bei Normalbetrieb wird hier anspruchsvolle Küche mit überraschenden Kombinationen serviert, wie Wolfsbarsch mit Himbeere und Sauerampfer. Als das Restaurant coronabedingt zumachte, musste sich Chefkoch Daniel Remers etwas Praktischeres überlegen und sagte sich: „Wer liebt nicht frittiertes Hühnchen?“
Sein Sandwich löste einen kleinen Hype aus und half, das Barra vor der Pleite zu bewahren. Der Gourmet-Blog Berlinfoodstories war begeistert, in der Berliner Food-Bubble auf Instagram ist es omnipräsent; und im echten Leben erstreckt sich die Schlange vorm Lokal entlang der vier Nachbarhäuser.
Dass frittiertes Hähnchen, im Barra als raffiniertes Sandwich serviert, auch in schickeren Restaurants angeboten wird, war bis vor Kurzem schwer vorstellbar. Lange galt es als Fastfood speziell migrantischer Communitys: Neben der US-Kette „Kentucky Fried Chicken“ gibt es immer mehr muslimische Halal-Schnellrestaurants, die frittiertes Geflügel anbieten. Was aber im Barra im Brötchen steckt, ist Southern Fried Chicken, und seine Geschichte geht weit zurück, ins 17. Jahrhundert, nach Nordamerika und Afrika – und ist hochpolitisch.
Alles begann in den US-Südstaaten
Frittiertes Hühnchen, dort einfach Fried Chicken genannt, hat in den USA seinen Ursprung auf den Plantagen der Südstaaten. Die Sklav:innen aus Westafrika brachten es in die neue Welt mit. Huhn war zugleich das einzige Tier, das sie selbst halten durften. Die Großgrundbesitzer hatten ihre Wurzeln in Europa. Sie verlangte es mehr nach Schwein und Rind. So kochten die Sklav:innen Fried Chicken bei speziellen Anlässen auch für sich.
Nach dem Verbot der Sklaverei 1865 hielten viele befreite Sklav:innen weiterhin Hühner in Haus und Hinterhof. Der sogenannte „Yardbird“ wurde meist am Sonntag nach der Kirche verspeist. Und an den Bahnhöfen der Südstaaten verkauften Schwarze Frauen aus großen Körben Hühnchenteile als Snack, sie zählen zu den ersten afroamerikanischen Unternehmerinnen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Doch obwohl Fried Chicken auch bei Weißen beliebt war, wurde es instrumentalisiert, um das Stereotyp des „unzivilisierten, wilden Schwarzen“ zu erschaffen und zu verstärken. Im zutiefst rassistischen Film „Birth of a Nation“ aus dem Jahr 1915 wird eine fiktive Gruppe Schwarzer Abgeordneter gezeigt, die während einer Parlamentssitzung nicht stillhalten können, ihre Schuhe ausziehen und obszön an Hühnerkeulen nagen.
Während der „Great Migration“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zogen dann große Teile der afroamerikanischen Bevölkerung aus dem ländlichen Süden in den industriellen Norden der USA. Schwarze Köch:innen eröffneten Restaurants für die segregierte Schwarze Community, und so verbreitete sich Fried Chicken auch an der Ostküste und im Mittleren Westen.
Mit Blauschimmelkäse-Dip und Sellerie
Verschiedene Zubereitungsarten entstanden: „Buffalo Wings“ werden mit Blauschimmelkäse-Dip und Sellerie serviert, „Country Fried Chicken“ in Buttermilch eingelegt und mit einer Mischung aus Mehl und Gewürzen paniert, als Beilagen gibt es Grünkohl mit Bacon, Kartoffelpüree mit Bratensoße, Coleslaw-Salat, Maisbrot oder Buttermilch-Biscuits. Für den besonders scharfen „Nashville Hot Style“ werden die Hähnchenteile mit einer Tabasco-Sauce glasiert. Sie ist so scharf, dass nur einfaches Toast und saure Gurken dazu serviert werden.
Ein weißer Tankstellenbesitzer in Kentucky machte Fried Chicken dann zum Bestandteil der Fastfoodwelt. Harland D. Sanders kam 1930 auf die Idee, einen neuartigen Druckkochtopf zu einer Schnellfritteuse umzubauen. Zusammen mit einem „Geheimrezept“ aus elf Kräutern und Gewürzen für die Panierung verkaufte er seine Zubereitungsmethode an andere Restaurants.
Sie zahlten für jedes nach seinem Rezept zubereitete Gericht 5 Cent Lizenzgebühr. Es war der Beginn von „Kentucky Fried Chicken“, heute eine der weltweit größten Fastfoodketten. Der Erfolg des später nur noch „Colonel Sanders“ genannten Unternehmers, der gern im Südstaaten-Kolonial-Look auftrat, ist typisch für die doppelten Standards, die Schwarzer Kultur oft entgegengebracht werden. Einerseits nutzt die weiße Bevölkerung Fried Chicken, um Afroamerikaner:innen zu beleidigen, gleichzeitig übernimmt sie das Gericht in die eigene Küche.
In der Netflix-Serie „Ugly Delicious“ erzählt der koreanisch-amerikanische Moderator David Chang, wie ein Schwarzer Freund ihm die Teilnahme an einer Folge über Fried Chicken absagte: „Du wirst mich niemals im Fernsehen frittiertes Hühnchen essen sehen!“ Dass Schwarze Fried Chicken – oder auch Wassermelonen – essen, ist bis heute ein rassistisches Stereotyp. Das zeigt auch der Skandal um eine britische Antigewaltkampagne aus dem Jahr 2019, bei der Slogans gegen das Tragen von Messern ausschließlich auf Fried-Chicken-Schachteln gedruckt wurden – um vermeintlich gefährliche Jugendliche zu erreichen.
Esskultur lebt von konstanter Evolution
Ist es denn aber kulturelle Aneignung, wenn ein Szene-Restaurant in Berlin Fried Chicken serviert? Sollten lediglich Schwarze Köch:innen Hühnchen frittieren? Auf gar keinen Fall! Essen lebt von seiner konstanten Evolution, außerdem findet sich auch in anderen Ländern frittiertes Geflügel.
So gibt es in Japan die traditionelle Zubereitungstechnik Karaage, bei der Hühnchenteile mariniert, in einer Mischung aus Stärke und Mehl gewälzt und frittiert werden. In Korea machten stationierte US-Truppen Fried Chicken populär, dort wird es heute gern mit einer Sauce aus der Chili-Sojabohnen-Paste Gochujang glasiert. Das österreichische Backhendl fand seine erste Erwähnung in einem Wiener Kochbuch von 1718.
In den USA wiederum bekommen Schwarze Köch:innen endlich mehr Aufmerksamkeit. Sie befreien die Südstaatenküche vom Soulfood-Klischee, indem sie Gerichte modern interpretieren und die diasporischen Bezüge zu Afrika, der Karibik oder nach Südamerika stärken.
Dass nun im Barra das Fried Chicken mit Brioche und Naturwein serviert wird, ist die Verbindung kulinarischer Kulturen, die vorher nichts miteinander zu tun hatten. Und gerade solche Kombinationen machen Essen so spannend. Doch wie das Beispiel Fried Chicken zeigt, lohnt es, einen Blick in die Geschichte eines Gerichts zu werfen. Um zu verstehen, was es für die Menschen bedeutet, deren Vorfahren das Huhn so schmackhaft gemacht haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern