: Edward Hopper in Twin Peaks
Siri Hustvedts Roman „Die Verzauberung der Lily Dahl“ ist eine Reise in die Abgründe einer amerikanischen Kleinstadt und ein Verwirrspiel um Liebe und Verführung ■ Von Diemut Roether
Der Mann steht nachts fast nackt in seinem Zimmer und malt. Mit weit ausholenden Bewegungen trägt er Farbe auf die Leinwand auf, bückt sich, streckt sich, läuft hin und her, reibt sich das Gesicht und raucht. Die junge Frau, die ihn aus dem gegenüberliegenden Fenster beobachtet, kann sich an ihm nicht satt sehen. Begierig saugt sie den Klatsch auf, der in der kleinen Stadt über den Maler kursiert: daß er „Gastkünstler“ am örtlichen College gewesen sei, daß er sein Geld beim Baseball verwettet habe und daß er es bei lauter Verdi-Musik in seinem Büro mit einer schönen, rothaarigen Studentin getrieben habe. Die Geschichten, die Lily Dahl über den Mann von gegenüber erfährt, erregen sie und lassen ihr den Künstler geheimnisvoll und um so begehrenswerter erscheinen.
Bereits auf den ersten Seiten ihres Romans „Die Verzauberung der Lily Dahl“ stellt die amerikanische Autorin Siri Hustvedt das Verhältnis zwischen männlichem Betrachter und weiblichem Objekt der Begierde auf den Kopf. Die Frau ist die Voyeurin, der Mann regt ihre erotische Phantasie an. Die junge Frau wird später den älteren Künstler verführen, doch als er ihr schließlich jene drei Worte sagt, die in jedem Hollywoodfilm das Happy-End einläuten, ist ihr bereits klar, daß sie „mit niemandem zusammenleben“ kann.
Lily Dahl ist in Webster, einer Kleinstadt in Minnesota, geboren und aufgewachsen. Sie kellnert im Ideal Café, wo sie morgens einsamen Männern und Sonderlingen das Frühstück hinstellt und hinter ihnen den Tisch abwischt. Bislang führte sie das ereignisarme Leben eines behütet aufgewachsenen amerikanischen Mädchens. Seit dem Highschool-Abschluß geht sie mit Hank, dem netten Jungen von nebenan. Ihre Zukunft scheint vorhersagbarer als das Wetter: Nach der Heirat mit dem Schwarm aller Mädchen von Webster wird ein Leben als hübsche Mutter von zwei intelligenten, glücklichen Kindern folgen.
Der Einzug des Künstlers ins Hotel gegenüber und das shakespearesche Verwirrspiel um Liebe und Täuschung lösen bei Lily Dahl eine beunruhigende Reise in die Abgründe ihres eigenen Ichs aus, und das verträumt-friedliche Webster wird plötzlich zur Kulisse verstörender Begebenheiten: Ein Mann wird mit einer Leiche im Arm gesehen, nachts läuft jemand laut murmelnd unter Lilys Schlafzimmerfenster auf und ab, und Martin Peterson, Lilys alter Spielkamerad aus der Kindheit, schickt ihr rätselhafte Botschaften und Zeichnungen.
Siri Hustvedt hat die kleine Stadt in Minnesota mit wenigen Strichen skizziert: Getreidesilos überragen die niedrigen Häuser. Bahngleise und ein Fluß durchqueren den Ort. In die Tristesse eines Gemäldes von Edward Hopper mischt sich die beunruhigende Atmosphäre von „Twin Peaks“. Denn in der kollektiven Erinnerung der dörflichen Gemeinschaft schlummert mehr als eine lebendig begrabene Leiche.
Hustvedts Stil besticht mit der Kunst, alles in der Schwebe zu lassen. Ihre Beschreibungen sind kurz, pointiert und fast surreal. Sie deuten an, daß da noch mehr sein könnte als das, was mit bloßem Auge zu sehen ist.
Hustvedt benutzt ein Koordinatensystem von Zitaten, das sie ihrer sorgfältig konstruierten Geschichte wie ein Netz unterlegt: Zwischen Shakespeares „Sommernachtstraum“ und Mozarts „Don Giovanni“, Marilyn-Monroe-Filmen, Elvis-Songs und dem Kleinstadtklatsch entspinnt sich „die Verzauberung der Lily Dahl“, eine Verzauberung, die in Wirklichkeit eine Entzauberung ist. Nüchtern betrachtet ist dieses Buch weniger der „erotische Psychothriller“, als den ihn die Verlagswerbung anpreist, sondern ein Emanzipationsroman: Am Ende hat sich die junge Frau erfolgreich von allen Männerphantasien und Projektionen befreit, von denen sie sich bislang leiten ließ, und scheint entschlossen, ein Leben auf eigenen Füßen zu beginnen.
Doch als traue sie dieser Geschichte nicht, hat Siri Hustvedt das Buch mit bildungsbürgerlichem Ballast und Reflexionen über die Kunst als Möglichkeit, das Wesen der Dinge zu erkennen, überfrachtet. Und ihre gepflegte Sprache entgleist gelegentlich ins Prätentiöse: „Es war, als würde man auf der Straße auf ein überfahrenes Eichhörnchen zeigen und es mit einer algebraischen Formel erklärt bekommen.“
Siri Hustvedt hat ihre Hauptfigur – wie in ihrem ersten Roman „Die Unsichtbare Frau“ – mit autobiographischen Merkmalen ausgestattet: Wie Lily ist die Autorin in einer Kleinstadt in Minnesota geboren, und wie sie stammt sie aus einer skandinavischen Familie. Auch die männlichen Projektionen und Phantasien, die das Leben ihrer Protagonistinnen prägen, dürften der Schriftstellerin, bei deren Anblick männliche Journalisten ins Schwärmen geraten, nur zu bekannt sein. Der Roman endet mit dem bevorstehenden Aufbruch Lilys nach New York, der Stadt, in die auch Siri Hustvedt ging, um Literatur zu studieren und in der sie sich zunächst als Lyrikerin einen Namen machte.
„Buy one, get one free“
Seit zwölf Jahren ist die Autorin mit dem Erfolgsschriftsteller Paul Auster verheiratet. Damit ist das literarische Phänomen Siri Hustvedt für Verleger und Medien perfekt: die schöne, begabte Frau eines Starautors, die so beunruhigend über rätselhafte Frauen schreibt.
Wie Hustvedts schöne Heldinnen fordert auch das Ehepaar Auster/Hustvedt die Projektionen heraus. Den Slogans der amerikanischen Verkaufsförderung gehorchend („buy one, get one free“), porträtieren Zeitschriften die beiden gern im Doppel, als glückliches, erfolgreiches, attraktives Schriftstellerpaar. „Die Kafkas von Manhattan“, titelte Vogue. Doch neben dem „Prozeß“ wirken die Romane des Schriftstellerpaars ausgesprochen leicht, geradlinig und beinahe optimistisch – geprägt von jener pragmatischen Romantechnik und der Kunst des suspense, die amerikanische Autoren in guten Kursen für creative writing lernen können.
Lily Dahl entscheidet sich (vermutlich) gegen das Leben an der Seite des berühmten Künstlers. Siri Hustvedt hingegen wird immer die „Frau von Paul Auster“ bleiben. Daß in den Artikeln über sie stets vom „Schatten ihres Mannes“ die Rede ist, daß sie sich, seit sie selbst Romane schreibt, mit dem viel Erfolgreicheren vergleichen lassen muß, ist natürlich höchst ungerecht. Letztlich ist es ihr poetisches Talent, das ihre Bücher prägt. In ihren präzisen Beschreibungen offenbart sich die Kunst, mit wenigen Worten viel Atmosphäre zu schaffen. Subtil und im besten Sinne verführerisch.
Siri Hustvedt: „Die Verzauberung der Lily Dahl“. Deutsch von Uli Aumüller, Rowohlt Verlag, Reinbek 1997, 320 Seiten, 42DM
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