Echt eine osteuropäische Stadt: Ernst zu nehmen unter Freunden

Wenn man von den klimatischen Verhältnisse hier in der Stadt sprechen will, kann man ruhig sagen: „Berlin liegt kurz vor Polen“.

Viele Menschen auf dem Pariser Platz in Berlin, vor dem Brandenburger Tor

Sonne? Also draußen. Das ist Berlin Foto: dpa

Wer früher übers Wetter redete, galt schnell als LangweilerIn, weil er oder sie kein anderes Thema parat hatte, es war allenfalls geeignet für Smalltalk zwischen Fremden. Dank Fridays for Future, Klimastreik, Flugscham, Hitzewellen, Starkregen und sterbender Bäume ist das heute ganz anders: Wetter ist ein ernst zu nehmendes Thema unter Freunden. Gut so.

„Berlin liegt kurz vor Polen“, sage ich seit vielen Jahren, wenn es um die klimatischen Verhältnisse in der deutschen Hauptstadt geht, um zu verdeutlichen, wo sich die Stadt eigentlich befindet. Weil es geografisch betrachtet einfach so ist. Es sind nur 70 Kilometer bis zur deutsch-polnischen Grenze; bis Stettin sind es gerade mal 126 Kilometer Luftlinie.

Zur Lage Berlins heißt es bei Wikipedia: „Die Stadt befindet sich in der gemäßigten Klimazone am Übergang vom maritimen zum kontinentalen Klima.“ Gemäßigt passt, weil es in Berlin in der Regel immer ein paar Grad kühler ist als in West- oder Süddeutschland (und trockener oder nasser, je nachdem). Aber natürlich macht sich der Klimawandel auch in unseren Breitengraden bemerkbar.

Und die globale Erwärmung hat ja – hier muss man sagen: leider – äußerst angenehme Seiten. Wenn es immer öfter immer wärmer als normal ist und immer länger trocken bleibt, dann nutzen das BerlinerInnen zum Draußensein wie verrückt. Kaum ist der Februar rum, werden in die ersten noch zaghaften Märzsonnenstrahlen hinein Tische und Stühle vor Cafés, Restaurants und Burger-Läden gestellt, regt sich Leben in den Kleingärten, werden die vielen Parks okkupiert. Bis in den Oktober hinein geht das so. Und mitunter auch den Winter über, Hauptsache es bleibt trocken und sonnig in der Hauptstadt – gegen die Kälte gibt es ja Decken (aber super, dass die großen gasbetriebenen Heizstrahler der Vergangenheit angehören).

Sonnenschein auf dem Balkon

Noch vergangenes Wochenende habe ich bei 25 Grad und schönstem Sonnenschein auf meinem Balkon gesessen und gelesen. Eine liebe Kollegin hatte mit zum Geburtstag ein Buch geschenkt über – weil sie weiß, dass ich mich für das Land interessiere: Polen. Weil nämlich meine Vorfahren daher kommen, Stichwort Schlesien, aber das ist eine andere Geschichte.

Ich habe „Rückkehr nach Polen“ von Emilia Smechowski in einem Rutsch an zwei Tagen gelesen. Kann ich nur empfehlen, das in diesem Jahr erschienene Buch. Darin schreibt die Berlinerin und gebürtige Polin, die als Kind mit ihren Eltern 1988 nach Deutschland emigrierte, über ein Experiment: Mit ihrer kleinen Tochter hat Smechowski für ein Jahr in Polen gelebt, das war 2018. In Wejherowo, einem kleinen Ort in der Nähe von Danzig aufgewachsen, quartierte sie sich in Danzig ein, und beobachtete ihren jetzt polnischen Alltag und verglich diesen mit ihrem gewohnten deutschen Alltag.

Ein spannendes Unterfangen, diese Wiederkehr auf Zeit. Smechowski, Jahrgang 1983, macht ihre eigene Befangenheit zwischen einerseits Außenseiterin- und andererseits Insiderin-Dasein zum Thema und schreibt über Land und Leute in den verschiedensten Facetten. Wer wissen will, wie die Polen heute ticken, wie sie denken und fühlen, was sie spaltet und eint, wie sie ihren Alltag gestalten, sollte „Rückkehr nach Polen“ lesen.

Mentale Wahrnehmung von Berlin

Der Grund, warum ich Emilia Smechowski und ihr Buch in meiner Kolumne erwähne, ist aber ein anderer. Eine Passage hat es mir besonders angetan, weil sie meine Wahrnehmung von Berlin bestätigt, sozusagen mental und eigentlich auch geografisch.

Emilia Smechowski schreibt in dem Kapitel „Kleine Geschichte des Kapitalismus“: „Es ist Sommer geworden in Danzig. Fast schlagartig hat die Stadt ihr Gesicht gewechselt. Während südliche Länder wie Italien das ganze Jahr über irgendwie gut aussehen, sind osteuropäische Städte mit Eintritt der warmen Jahreszeit nicht wiederzuerkennen. Im Winter sind sie trostlos, kalt und grässlich, doch kaum steigen die Temperaturen, sprießen plötzlich Blumen aus dem Beton, und jedes winzige Café stellt Liegestühle raus.“

Und dann schließt sie den Absatz mit dieser so witzigen wie klugen Aussage ab: „Ausnahmsweise würde ich hier auch Berlin zu Osteuropa zählen.“

Danke, besser hätte ich das auch nicht formulieren können.

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In der DDR geboren, in Westmecklenburg aufgewachsen, Stahlschiffbauer (weil Familientradition) gelernt, 1992 nach Berlin gezogen, dort und in London Kulturwissenschaften studiert, 1995 erster Text für die taz, seit 2014 im Lokalteil Berlin als Chef vom Dienst und Redakteur für Kulturpolitik & Queeres.

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