EU-Liste sicherer Staaten: Verunsichertes Herkunftsland
Die EU-Kommission deklarierte diese Woche sieben Staaten als sicher genug für Abschiebungen. Darunter auch Tunesien, wo gerade Migranten gejagt werden.

Das führt aber – ähnlich wie im Fall Tunesien – auf menschenrechtliche Abwege. So wird im Kandidatenland Türkei die Demokratie mit Füßen getreten; gegen die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu gehen Zehntausende auf die Straße. Auch die Ukraine ist ein Problemfall, denn das Land ist im Krieg und kann keineswegs als sicher betrachtet werden.
Die EU-Kommission liefere mit ihrem Vorschlag den „Beweis für die eigene Verlogenheit“, kritisiert die Europaabgeordnete Özlem Alev Demirel von der Linken. „Ob in Tunesien, Ägypten oder der Türkei: Überall verschärfen die Regime die Repression gegen Oppositionelle und unabhängige Medien und schränken Grundfreiheiten und Menschenrechte ein“, sagte die Abgeordnete.
Das Konzept der sicheren Drittstaaten widerspreche fundamental dem Grundsatz der individuellen Prüfung jedes Asylantrags und der Genfer Flüchtlingskonvention, so Demirel weiter. „Ihre blumigen Worte über Demokratie und Menschenrechte verfangen nicht mehr, wenn man gleichzeitig mit autoritären Regimen für die Abschottung paktiert.“
Nur Deutschland definiert bisher „sichere Herkunftsländer“
Bisher haben nur einzelne EU-Staaten wie Deutschland das – auch rechtlich umstrittene – Konzept sicherer Herkunftsländer eingeführt. Auf EU-Ebene gab es das bisher nicht. Die EU-Kommission betritt daher mit ihrem Vorschlag asylpolitisches Neuland. Wenn sie sich durchsetzt, würde die Liste angeblich sicherer Länder auch für Deutschland erheblich ausgeweitet.
Das erklärte Ziel ist es, Asylverfahren zu beschleunigen und Abschiebungen zu erleichtern. Außerdem sollen künftig alle Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten, eigene Herkunftsstaaten festzulegen, für die beschleunigte Verfahren erlaubt wären. Die EU-Kommission sieht diese Möglichkeit vor, wenn 20 Prozent oder weniger der Anträge aus dem entsprechenden Land angenommen werden.
Der Vorstoß ist Teil der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Das EU-Parlament und die Mitgliedstaaten müssen noch zustimmen. Außerdem läuft ein Verfahren am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Ein Urteil wird in den kommenden Monaten erwartet – es geht um die letztlich entscheidende Frage, welche Kriterien sichere Herkunftsländer erfüllen müssen.
In Tunesien regt sich Widerstand
Seit der Ankündigung der EU, Tunesien zum sicheren Herkunftsland zu erklären, regt sich in dem nordafrikanischen Staat Widerstand. Bei mehreren Straßenprotesten in der vergangenen Woche in Tunis hielten Aktivisten Plakate mit Parolen wie diesen hoch: „Dieser Vertrag tötet“ oder „Stoppt die koloniale Politik der EU“.
Anlass für die Ablehnung ist jedoch nicht die Behauptung in Berlin und Brüssel, dass es in Tunesien keine politische Verfolgung, unmenschliche Behandlung im Strafvollzug oder Formen der Bestrafung mehr gebe. Gegen die Bestechlichkeit von Gerichten, gegen Polizeigewalt und willkürliche Ermittlungen der Staatsanwaltschaften gehen Menschenrechtsaktivisten bereits seit 12 Jahren auf die Straße.
Die Kritik an den Zuständen in Justiz und im Sicherheitsapparat teilen sogar Anhänger des autokratischen Präsidenten Kais Saied. In vertraulichen Gesprächen machen Berater aus dem Präsidentenpalast der Zivilgesellschaft deutlich, dass die teilweise überharten Strafen der politischen Entscheidungsträger und Ermittlungen wegen Facebook-Einträgen keine Anweisung von oben sind. Sondern schlicht das Resultat der unbegrenzten Macht der Richter und Beamten seit Zeiten des autokratischen Ben-Ali-Regimes zwischen 1987 und 2011.
Kein „außerordentliches Land“
Das wurde besonders an den Folgen des TV-Auftritts der Rechtsanwältin Sonia Dahmani vor einem Jahr deutlich. Die landesweit bekannte 59-Jährige ist seit Jahren dafür bekannt, ihre Meinung als TV-Kommentatorin offen auszusprechen. Als ein zum Thema Migration eingeladener Studiogast den nach Tunesien kommenden „Afrikanern“ vorwarf, die außerordentlichen Schätze des Landes an sich zu reißen, platzte ihr der Kragen. „Von welchem außerordentlichen Land sprechen Sie denn? Von dem, dessen halbe Jugend aufgrund ihrer eigenen Lebensumstände auswandern will?“
Während die Zuschauer der Talksendung mehrheitlich applaudierten, bereitete die Staatsanwaltschaft eine Anklage laut Paragraph 54 vor, der das Verbreiten von Falschmeldungen, unwahren Gerüchten oder die Gefährdung der öffentlichen Ordnung unter Strafe stellt. Im Mai 2024 wurde Dahmani zu zwei Jahren Haft verurteilt. Auch wenn die Strafe mittlerweile um sechs Monate reduziert wurde, ihre zuvor immer wieder geäußerte Kritik an den Zuständen in den tunesischen Haftanstalten hat sie letztlich selbst hinter Gitter gebracht.
Tausende Kritiker in Haft
„Irgendjemand im Machtapparat glaubt, mit der Verurteilung wegen solcher Bagatellen die Kritiker der politischen Elite in Angst und Schrecken zu versetzen, aber derjenige irrt“, sagte ein Menschenrechtsaktivist aus Tunis. Doch schon seine Weigerung, seinen Namen in einer Zeitung gedruckt zu sehen, zeigt, wie gut die aus vorrevolutionären Zeiten stammenden Methoden funktionieren.
Niemand kennt die genaue Zahl derjenigen, die wegen kritischer Facebook-Posts in einem der überfüllten Gefängnisse sitzen, aber die letztjährige Amnestie des Präsidenten für einige seiner Kritiker zeigte: Es könnten Tausende sein.
Doch die eigentliche Wut gegen das Migrationsabkommen mit der EU richtet sich zur Zeit nicht gegen die eigene Justiz, sondern gegen die Umsetzung. Seitdem in Italien ein zur Abschiebung inhaftierter Tunesier Anfang April unter dubiosen Umständen im Gefängnis starb, klagen tunesische Medien über zunehmenden Rassismus gegen Nordafrikaner im nördlichen Nachbarland. Doch die Gewalt gegen Fremde gibt es auch in Tunesien selbst – gegen Migrant:innen aus Subsahara-Afrika.
Man wolle nicht mehr „Polizist der EU“ am Mittelmeer sein, sagen viele Bewohner der Fischerdörfer bei Sfax. Dort leben bis zu 30.000 Migrant:innen in Olivenhainen, ohne jegliche medizinische Hilfe. Seitdem die tunesische Küstenwache fast alle Boote nach Lampedusa abfängt, steigen die Spannungen zwischen Einheimischen und Geflüchteten und Migrant:innen.
Das Antwort der Nationalgarde zeigt wohl, wie man sich Brüssel die Reduzierung der Asylbewerber vorstellt. Die Zelte der Menschen werden zerstört und verbrannt. Wer nicht rechtzeitig fliehen kann, wird mit Bussen an die algerische oder libysche Grenze gefahren und im Niemandsland ausgesetzt.
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