EU-Jurist über Ukraine-Ermittlungen: „Es ist ein fortlaufender Prozess“
Ladislav Hamran weiß als Eurojust-Präsident, wie die Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine laufen: Sie sind eine besondere Herausforderung.
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taz: Herr Hamran, Sie haben im Juli das International Centre for the Prosecution of the Crime of Aggression against Ukraine (ICPA) mitbegründet. Das Zentrum soll Beweise zur Verfolgung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine sammeln und Anklagen gegen Täter vorbereiten. Wie sind Sie vorangekommen?
Ladislav Hamran: Verantwortlichkeit beginnt mit Beweisen. Das Sammeln von Beweismaterial ist daher essenziell. Wir sind mehrere Länder, die die Situation aus verschiedenen Perspektiven beobachten. Dabei ist es sehr wichtig, diese Länder, unsere Partner, zusammenzubringen und zu verstehen, wer was tut, welche Dimension die Ermittlungen haben, was ihre rechtliche Grundlage ist, wie weit sie fortgeschritten und was ihre Ziele sind. Dies ist eine fragmentierte Ausgangssituation, Beweise sind weltweit verstreut.
Meinen Sie digitales Beweismaterial?
Richtig. Wir sehen einen Trend, dass dieses Material Zeugenberichten, Aussagen von Opfern und physischen Beweisen den Rang abläuft. Digitale Beweise sind an verschiedenen Orten vorhanden, daher ist eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit mit Ländern außerhalb der EU essenziell, genauso wie mit Servern und Internet-Diensten. Diese sitzen teilweise in den USA. Das erklärt, warum die USA am ICPA teilnehmen.
Was bedeutet das konkret?
Dass Staatsanwälte und Ermittler, Experten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter entweder nach Den Haag kommen oder permanent im ICPA-Standort sind und über rechtliche, praktische und logistische Aspekte des Verbrechens eines Angriffskriegs diskutieren.
Welche Herausforderungen bringt das ICPA mit sich?
Am Anfang mussten wir eine übereinstimmende Definition zum Verbrechen eines Angriffskriegs finden. Dann braucht man Fachleute, die den Ermittlern neutrale, objektive und solide Expertise zur Verfügung stellen können. Hinzu kommt die starke Fragmentierung: Wir haben nationale Ermittlungen, aber weltweit verbreitetes Beweismaterial, das zum Teil auch geheim sein kann. Wenn der Zugang über Nachrichtendienste, Militär oder Sicherheitskräfte verschiedener Länder führt, müssen wir herausfinden, ob sie ihr Material mit uns teilen wollen. Zum Teil muss nachrichtendienstliches Beweismaterial in zulässiges umgewandelt werden. Da gibt es unterschiedliche nationale Anforderungen.
Zur Koordinierung der Ermittlungen wurde eine Gemeinsame Ermittlungsgruppe gegründet, das Joint Investigation Team (JIT). Wer ist dabei?
Die Ukraine, Lettland, Litauen, Estland, Polen, Slowakei und Rumänien. Nur drei Wochen nach Beginn des Konflikts im Februar 2022 riefen die Ukraine, Polen und Litauen das JIT ins Leben – die anderen Länder kamen nach und nach dazu. Es gibt auch eine Vereinbarung (ein Memorandum of Understanding) mit den USA, um schnell Informationen und Beweismaterial auszutauschen.
Welche Art von Beweisen konnten Sie bisher sammeln?
Zunächst liegen uns aus den Nachbarländern der Ukraine viele Interviews mit Geflüchteten vor, die verschiedene Verbrechen direkt miterlebten und darüber aussagen konnten – darunter Opfer von Gräueltaten. Dazu haben wir Fotos und Videos von ihnen oder Verwandten bekommen, die noch in der Ukraine sind, Audio-Aufnahmen abgehörter Gespräche zwischen russischen Soldaten und Kommandanten sowie zahlreiche Satelliten- und Drohnen-Bilder. Es gibt viel militärisches Beweismaterial und das sogenannte battlefield evidence von der Front. Dazu kommen IP- und E-Mail-Adressen oder Telefonnummern über ukrainische Telekommunikation und weitere elektronische Kommunikation zwischen Soldaten und ihren Angehörigen in Russland.
Lassen sich daraus schon Schlüsse ziehen?
Zum jetzigen Zeitpunkt kennen wir bereits Truppenstandorte und wissen, welche militärischen Abteilungen in bestimmten Regionen operieren. Die ukrainischen Partner haben viel medizinisches, forensisches und militärisches Expertenwissen.
Wie verfahren Sie weiter?
Wir brauchen Analysten, nicht nur für Daten, sondern auch Rechtsexperten, die Videos und Fotos auswerten. Unser Anspruch ist, nicht nur ein Speicherplatz für die jeweiligen nationalen Behörden zu sein. Wir wollen verstehen, was darauf aus rechtlicher Perspektive festgehalten ist. Es ist eine weitere Herausforderung, dieses fragmentierte Beweismaterial in einer Datenbank zu zentralisieren, die wir dafür eingerichtet haben: die Core International Crime Evidence Database (CICED). Sie sammelt das Beweismaterial der einzelnen nationalen Behörden an einem gemeinsamen Ort, was neben rechtlicher und Daten-Expertise auch sichere Übertragungstools und Speicherplatz benötigt. Aber das Sammeln von Beweismaterialien geht nicht immer mit Ermittlungen einher.
Über wie viele Beweisstücke sprechen wir?
Es geht um Tausende.
Was geschah in Ihrem Sitz in Den Haag seit der Gründung des ICPA?
Die Mitgliedsländer sind sehr engagiert. Die Staatsanwaltschaften haben auch in den Sommerferien in Den Haag hart daran gearbeitet, das erste ICPA-Treffen vorzubereiten, das im Spätsommer bei uns stattfand. Es gibt Länder, deren Staatsanwaltschaft hier permanent vertreten ist, und solche, die regelmäßig hier hinkommen. Das ist ein fortlaufender Prozess.
Gibt es ein Zwischenfazit?
Um diese Art von Verbrechen zu dokumentieren, braucht es erhebliche internationale Anstrengungen und viel Engagement verschiedener Akteure. Ein Land allein kann eine solche Ermittlung nicht leisten.
Sie sind seit 2017 Eurojust-Präsident. Was bedeutet Ihnen das Projekt ICPA?
Mich ermutigt, dass wir als internationale Gemeinschaft von Staatsanwälten länderübergreifend diese Kriegsverbrechen ermitteln und dokumentieren. Diese Initiativen gehen in die richtige Richtung, um internationale Verantwortlichkeit zu gewährleisten.
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