EU-Feindlichkeit in England: Die Londonisierung Großbritanniens

Woher kommt die EU-feindliche Politik der Regierung Cameron? Sie könnte mit Finanzgeschäften, Grundstücksspekulation und Steuerhinterziehung zu tun haben.

Abweisende Front gegen die EU: Londons neuer Finanzdistrikt Canary Wharf Bild: dpa

Die Festlandeuropäer amüsieren sich gern darüber, wie wir von der Insel uns auf "den Kontinent" beziehen, als ein "Etwas", an dem wir gar nicht richtig beteiligt sind. "Europa" ist uns grundsätzlich verdächtig - etwas von weiter drüben.

Sie haben recht, das lächerlich zu finden, aber ein Quäntchen Wahrheit enthält es doch. Wir sind ein sehr verstädtertes Land, mehr als 90 Prozent aller Engländer leben in Städten - man könnte darin gar nicht auf die Idee kommen, irgendwo anders zu sein als in England.

Die britische Stadt ist eine in jeder Hinsicht planlose, ultrakapitalistische Kreatur. Weitgehend begründet auf einer Zersiedelung durch Einfamilienhäuser unterschiedlicher Größe und Klasse (mehrheitlich im Privatbesitz), die sich um dichtbesiedelte Stadtkerne herum ausdehnt. Diese wurden inzwischen weitgehend abgegeben an den Einzelhandel und die Finanzwirtschaft. Öffentlicher Nahverkehr ist teuer und ineffizient. Insgesamt ist es eine Lebenswelt, die sich nicht durchdacht anfühlt.

Der 30-jährige Autor lebt in London und schreibt über Architektur, Politik und Pop. Hatherley hat sich einen Namen mit der Architektur-Studie "Militant Modernism" gemacht. Sein aktuelles Buch "Uncommon. An Essay on Pulp" dreht sich um den Einfluss der nordenglischen Stadt Sheffield auf Texte und Musik der Band Pulp.

Die Differenz zu den geordneteren Stadtzentren europäischer Hauptstädte ist beides: furchterregend und begrüßenswert. Angefangen bei den Kratern, entstanden durch die Flächenbombardements der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, die bis heute sichtbar sind, bis zu den architektonischen Unfällen, herbeigeführt durch das Fehlen jeglicher vernünftigen Stadtplanung. Aber: Britische Metropolen sind nicht annähernd so segregiert in Ein-Klassen-Enklaven wie Großstädte anderswo in Europa.

Sozialwohnungen liegen verstreut im gesamten Stadtbild. Wenige britische Städte haben eine Banlieue. Stattdessen wohnen bei uns die Armen direkt neben den Wohlhabenden. Ein Immobilienboom steigert den Wert der Häuser und Wohnungen in einem extrem lächerlichen Ausmaß. Schäbig gebaute Reihenhäuser für die Arbeiterklasse des Jahrhunderts, verhasst zu ihrer Zeit, werden heute reimaginiert als hochpreisige Luxusgüter.

Von Architekten designte brutalistische Hochhäuser des sozialen Wohnungsbaus werden von ihren Mietern gesäubert, dann als kulturelle Prestigeobjekte verkauft. Dutzende von sündhaft teuren neuen Appartements werden in einigen der ärmsten Stadtbezirke im Westen Englands gebaut, und trotzdem bleiben diese Bezirke genauso arm wie vorher. Neubauwohnungen haben im Durchschnitt die kleinste Wohnfläche aller Neubauten in Europa.

Keynesianismus ist illegal

Nach Englands dramatischem Ausstieg aus dem neuen Vertrag der Europäischen Union wird dieser Unterschied noch weniger bedacht werden. England hat sich den seltsamen Ruf erworben, eines der wenigen Länder zu sein, das in Opposition zur EU geht - von rechts aus. Beim letzten Mal, als die EU so viel politische Aufmerksamkeit bei uns hatte, stellte unsere Regierung sicher, dass die ohnehin ängstliche Sozialcharta im Vertrag von Maastricht nicht auf England angewandt werden konnte.

Die neuerliche Ablehnung hat mit der ohnehin milden Besteuerung in Großbritannien zu tun sowie den Regulierungen, die für die Finanzinstitutionen im neuen Vertrag gelten sollen. Letzteres ist eine Minikonzession, um die Tatsache zu verschleiern, dass der Vertrag alle europäischen Länder zum drastischen Senken der Defizite und zu Einschnitten in den Sozialstaat verpflichtet. Diese illegalisieren in ihrer Auswirkung jede keynesianische Ökonomie.

Aber selbst das war zu viel für die amtierende konservativ-liberale Koalition. Und es könnte eine populäre Entscheidung werden - Attacken auf Europa sind immer gut angekommen bei den Tory-Wählern, genauso wie das nationalistische Muskelspielen. Wirklich bemerkenswert ist die komplette Verschmelzung von jeglichem "nationalen Interesse" mit einem eher kleinen, aber extrem destruktiven Element der britischen Ökonomie - der "City of London".

Selbst die Opposition im Unterhaus bemerkte, dass der Schachzug von Premierminister David Cameron durch dieses ominöse "nationale Interesse" motiviert war. Dass die City of London aber Dreh- und Angelpunkt der britischen Ökonomie sei, ist ein Mythos: Selbst nach 30 Jahren ständiger Firmenschließungen, Personalkürzungen und dem totalen Kollaps von Forschungs- und Entwicklungszweigen stellt die britische Industrie noch immer mehr Leute ein als die Finanzdienstleister und zahlt sogar mehr als das Doppelte an Einkommensteuern.

Außerdem haben die Banken mehr als eine Billion britische Pfund an öffentlichen Geldern im Rahmen verschiedener Rettungsaktionen während der Finanzkrise erhalten. Das führt unweigerlich zur Frage, warum die britische Regierung so entschieden mit dem rechten Flügel des europäischen Mainstreams gebrochen hat. Wieso kann sie sich dabei auf die Unterstützung ihres Volkes verlassen? Weshalb werden das lächerliche Ungleichgewicht und die Korruption toleriert?

Ein paar Anhaltspunkte lassen sich in dem "vibrierenden" urbanen Mahlstrom finden, den die City of London selbst geschaffen hat. Es ist dies die wichtigste finanzielle Institution in Großbritannien, ein mittelalterliches Relikt außerhalb des Einflusses der demokratischen Staatsführung. "City of London" bezieht sich heute nicht einfach nur auf ein Planquadrat in der Stadt selbst. Sie grenzt direkt an arme Bezirke wie Aldgate und Bermondsey.

Ein noch dramatischerer Kontrast findet sich in Canary Wharf, dem Vorposten der City in den ehemaligen Docklands. Eine vierspurige Straße dient als Cordon sanitaire zwischen den Bürohochhäusern, wo die Lehman Brothers all die Dinge verbrochen haben, die ihnen an der Wall Street rechtlich untersagt waren, und den baufälligen Sozialwohnungen in den Londoner Bezirken Newham und Tower Hamlets. In einigen dieser Hochhäuser waren Stadträte gezwungen, Wohnungen wieder anzumieten, die sie einst mit dem Slogan "Recht auf Eigentum!" an die Mieter verkauft hatten - um so wenigstens die Wartelisten für Sozialwohnungen zu kürzen.

Restposten des Sozialstaats

Die Reformen der konservativ-liberalen Koalition, zum Beispiel die Deckelung des Wohngelds und die Begrenzung der Pachtzeiten, sind gestaltet worden, um diese Orte für private Vermieter zu öffnen und letztendlich die Kolonialisierung durch reichere, "aufstrebende" Mieter voranzutreiben - ein Prozess, der, unter der Labour-Regierung Gordon Browns begonnen, jetzt massiv beschleunigt wird. An anderen Stellen in diesen Gegenden, überschattet von den Hochhäusern der Hochfinanz, findet man zwar noch Büchereien, Schulen, Tagesstätten für Kinder, Gesundheitsdienste, Restposten des Wohlfahrtsstaats. Aber entweder wurden sie schon geschlossen oder sie fallen gerade auseinander.

Die Arbeitslosenrate ist immens, besonders unter Jugendlichen. Nebenan wird das Olympia-Gelände gerade umringt von neuen Luxusbauprojekten. Über dem gesamten Gelände mitsamt der gigantischen Westfield-Mall werden demnächst unbemannte Drohnen patrouillieren.

Diese unmittelbare Nähe von Wohlstand und Armut wurde früher "Brasilianisierung" genannt, aber heute scheint sie mehr eine Komponente der sozialliberalen, wirtschaftlich skrupellosen Bewegung zu sein, die der Economist "Londonisierung" nennt. Londonisierung gründet auf Finanzgeschäften, Grundstücksspekulation, Steuerhinterziehung im großen Stil (allein der Telefonkonzern Vodafone schuldet dem Fiskus umgerechnet 7 Milliarden Euro) und epikureischem Lebensstil.

Es ist das Update eines Phänomens, das der Autor William Cobbett 1830 "Alte Korruption" genannt hat - eine sich selbst fortpflanzende Oligarchie, die es schafft, zu wachsen, ohne irgendetwas Greifbares zu produzieren. Die Finanzdienste, die sich auf die City of London konzentrieren, sind eingebettet in diesen Kausalzusammenhang, aber sie allein können ihn nicht regulieren. Angedockt hat ein groß angelegter Überbau, der vom Immobilienmarkt bis zu den bildenden Künsten alles umfasst.

Die endlose Liste ehemals armer Bezirke, die plötzlich hip sind (und damit ein sicherer Anlageort für Banker), die Fluktuationen der Kaufpreise von Vororthäuschen, die die Schlagzeilen von kleinbürgerlichen Tageszeitungen wie Mail und Express besetzen: Das sind alles entscheidende Puzzleteile dieser Neuen Alten Korruption. Einerseits begünstigt sie in überwältigendem Maße die extrem Wohlhabenden, die finanzielle Oligarchie, aus der die Führer sowohl der Konservativen als auch der Liberalen stammen.

Andererseits bedeutet diese "Grundbesitz-Demokratie", geschaffen von Thatcher und Blair letztlich, dass ein großer Teil der Bevölkerung das Gefühl hat, an diesem Phantommarkt tatsächlich beteiligt zu sein. So irreführend er ist - der Taschenspielertrick zeigt Wirkung. So ist die Neue Alte Korruption nichts als die alte Version, nur verallgemeinert: Jeder hat seinen Anteil daran, also ist auch jeder schuldig. Jeder ist verschuldet, und so glaubt die Bevölkerung, dass die Schulden für die Regierung eine so große Last sind wie ihre eigenen Schulden für sie selbst.

Diejenigen, die keine Anteile an der Neuen Alten Korruption besitzen, haben im August auf den Straßen revoltiert. Ihre Molotowcocktails kamen den neuen Luxuswohnungen gefährlich nahe. Beim nächsten Mal könnten sie noch besser treffen.

Aus dem Englischen von Gaby Sohl

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.