EU-Beitrittsgespräche mit der Ukraine: Die Zukunft planen? Gerade schwierig
Die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Ukraine und Moldau haben begonnen. Aber für Ukrainer sind Luftangriffe und Stromausfälle gerade präsenter.
K omplexe Pläne für eine weit entfernte Zukunft zu machen und gleichzeitig die Herausforderungen des Alltags zu meistern, ist schon unter Normalbedingungen nicht gerade leicht. Doch in Kyjiw ist es im seit über zwei Jahren andauernden russischen Angriffskriegs noch mal deutlich schwieriger.
Schon das Einkaufen ist problematisch. Immerhin funktioniert die Versorgung relativ gut – was umso erstaunlicher ist, da Russland immer wieder auch Groß- oder Baumärkte mit Raketen beschießt. Erst in dieser Woche wurde in Odessa wieder eine Lagerhalle für Limonade getroffen. Kein gutes Gefühl für einen Einkauf.
Aber trinken muss man ja. In der Hitze des ukrainischen Sommers ist die Dehydrierung gleich nach Russland der größte Feind. Deshalb mache ich mich im Supermarkt mit einem grünen Plastikkorb in der Hand auf den Weg durch die Regalreihen. Doch zwischen Kartoffelsalat und Knabbergebäck wird es plötzlich stockfinster. Auch das Einkaufsradio verstummt. Der Strom ist abgeschaltet worden, offenbar früher als geplant. Es springt auch kein Generator an.
Kein Strom, kein Licht, kein Fahrstuhl
Kurzfristig hilft die Taschenlampen-App. Auch die anderen Kund:innen bahnen sich im Lichtkegel ihrer Telefone den Weg zum Ausgang, ein Wachmann drängt höflich darauf, dass man den Laden verlassen solle. Zum Glück hatte ich die Wasserflaschen schon im Korb. Und das Kartenlesegerät an der Kasse läuft mit Batterie. Nun muss der Einkauf nur noch ins siebte Stockwerk hochgetragen werden. Denn der Lift funktioniert wegen der Stromsperre natürlich auch nicht.
Andere haben es da schwerer. Es gibt viele Hochhäuser in Kyjiw und Menschen, die nicht gut zu Fuß sind. Um böse Überraschungen zu vermeiden, kann man auf der Website des lokalen Stromanbieters sehen, wann in welcher Straße es ganz bestimmt keinen Strom geben wird, wann vielleicht und wann höchstwahrscheinlich. Das hilft immerhin ein wenig bei der Planung des Alltags.
Wenn es Strom gibt und dann noch gleichzeitig kein Luftalarm ist, kann man dieses Zeitfenster für einen stimmungsaufhellenden Friseurbesuch nutzen. Licht ist dabei essentiell, da dort ja mit scharfen Klingen hantiert wird. Ich werde heute von Wowa bedient, der sich den Vornamen mit dem Staatspräsidenten teilt, erfahre ich am Tresen.
Während Wowa meine Haare wäscht und schneidet, erzählt er von der Europäischen Union. Die hat nämlich am selben Tag offiziell den Start der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und der Republik Moldau verkündet. Wowa findet das gut, genau so wie sein Namensvetter. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte in seiner täglichen Videobotschaft gar von einem historischen Moment gesprochen, und sagte: „Wir haben hart daran gearbeitet, diesen Punkt zu erreichen.“ Die Regierung sei bestrebt, alle Anforderungen zu erfüllen, um zu einem Beitrittsvertrag für die Ukraine zu gelangen.
Vorbild Polen
Wowa versteht gut, dass dabei gar nicht so viel verhandelt wird, sondern dass es vor allem darum gehe, Tausende von EU-Regeln in nationales Recht zu überführen. „Wir wollen ja so leben wie ihr in der EU, also müssen auch die Regeln die gleichen sein“, befindet er, während er meine Haare in Form bringt.
Für ihn sei vor allem Polen das Vorbild. Wie sich das Land in den zwanzig Jahren seit EU-Beitritt entwickelt hat, beeindruckt ihn. Aber bevor für die Ukraine etwas daraus werde, müsse erst mal der Krieg enden. Und zwar so, dass von der Ukraine noch etwas übrig sei. „Wenn wir unser Land verlieren sollten, dann brauchen wir auch keinen EU-Beitritt mehr“, sagt er trocken.
Bis dahin sei dieser Beitrittsprozess für ihn auch so eine Art Instrument, das die Regierung brauche, um gegen die Korruption vorzugehen. Denn gerade dabei sehen viele Ukrainer:innen nach wie vor Defizite. Der Druck von Außen helfe den Aktivist:innen im Land, meint Wowa. Mal schauen, ob in den EU-Bestimmungen auch der Taschenlampeneinsatz im Einzelhandel geregelt ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid