Düsterer Großstadt-Spielfilm: Zwischen Abschied und Entfremdung
„Der Kuss des Grashüpfers“, ein Film von Regisseur Elmar Imanov, erzählt mal realistisch, mal kafkafesk von sozialer Versehrtheit in der Großstadt.

Auch zum Finale seines zweiten Spielfilms, „Der Kuss des Grashüpfers“, zeigt er ein Fenster, das hier mit seiner ganzen kinematografischen Historie auch eine metaphorische Grenze eines Innen und Außen markiert. Mit diesem Schwebezustand spielt der in Köln lebende Regisseur, der dort an der Internationalen Filmschule studierte, konsequent.
„Der Kuss des Grashüpfers“, uraufgeführt in der Sektion Forum der Berlinale, kommt – anders als das sozialrealistisch-sperrige Vorgängerwerk – als tiefenpsychologischer Trip mit kafkaesker Motivik und Cronenberg-Vibes daher. Der Zungenkuss mit einer menschengroßen Version des titelgebenden Insekts ist dabei nur eines der vielen düster-poetischen Bilder, die im Gedächtnis bleiben.
Mit Lötkolben basteln
In einem Köln, das in solcher Entrückt- und Dunkelheit wohl noch nicht auf der Leinwand zu sehen war, folgt der Film Bernard (Lenn Kudrjawizki). Der freiberufliche Autor bastelt gerne mit Lötkolben an einem geheimnisvollen Apparat herum und wohnt mit Schaf Fiete zusammen, mit dem er mehr kuschelt als mit Agata (Sophie Mousel). „Du nervst mit deinem Deprigetue“, raunt seine dominante Freundin dem sehr mit sich und seiner Situation beschäftigten Schriftsteller zu, dennoch scheint Liebe im Spiel zu sein.
„Der Kuss des Grashüpfers“. Regie: Elmar Imanov. Mit Lenn Kudrjawizki, Michael Hanemann u. a. Deutschland/Luxemburg/Italien 2025, 128 Min.
Das zentrale und zugleich ambivalenteste Verhältnis pflegt Bernard zu seinem Vater Carlos (Michael Hanemann). Die beiden essen regelmäßig zusammen, doch als der Vater ihn einmal für das Aufgetischte lobt, zückt Bernard gleich die verbale Peitsche. „Du hast immer gelogen, wie soll ich dir da glauben?“ Autsch!
Dennoch sucht Bernard Nähe, schläft gar mit dem Kopf auf der Brust seines alten Herrn. Spätestens als Carlos ein Hirntumor diagnostiziert wird und die Prognose lautet, dass eine Operation eine 50-prozentige Überlebenschance böte, wird klar, woran sich „Der Kuss des Grashüpfers“ abarbeitet: an Entfremdung und Abschied. Imanov verarbeitet in seinem Film eigene Erfahrungen, sein Vater starb an Lungenkrebs.
Schwarzer Humor
In strengen Einstellungen zeichnet er in „Der Kuss des Grashüpfers“, und das verbindet den Film mit „End of Season“, eine Welt mit Hang zur Kommunikationsunfähigkeit. Viele Gespräche sind von gegenseitigen Verletzungen gezeichnet, die Räume, allen voran die U-Bahn, in der sich die Protagonisten beinahe leitmotivisch durch die Dunkelheit bewegen, wirken steril. In den Waggons blicken die Menschen aneinander vorbei oder auf ihre Smartphones, doch immer wieder blitzt auch schwarzer Humor auf.
Zugleich trifft Bernard zwischendurch auf einige Fremde, die ihm mit einer so plötzlichen wie unverhofften Wärme begegnen. So bietet ihm ein Nachbar, der zugleich so etwas wie der junge Wiedergänger seines Vaters zu sein scheint, in einer der schönsten Filmszenen Naschware an und klettert dann in eleganter, traumwandlerischer Choreografie, ohne den Boden zu berühren, über Möbel und an den Wänden entlang zur Süßigkeitenschale. Ein magischer, vieldeutiger Kommentar auf Bernards Odyssee zwischen Kindheitsritualen und dem Umgang mit dem Tod.
Imanov entwirft zwischen Realismus und Surrealismus nach eigenem Drehbuch eine eigensinnige Welt und verhandelt mit einer Bildsprache voller Metaphern und Symbole universelle Themen. Bernard begegnet riesigen Insekten, in einem düsteren Technoclub zeigt er seinem Vater seine Welt. Einmal verliert ein Müllwagen in einer Gasse tonnenweise Spielzeug, darunter eine alte sowjetische Puppe. Zentral ist auch eine Schlägertype mit deformiertem Gesicht, die nichts anderes als Wassermelonenkaugummis zu sich nimmt.
Waberndes Ungetüm
Dass Carlos’ Frisur der Wolle von Schaf Fiete ähnelt oder Bernard an einem Essay mit dem Titel „Grasshoppers Dream“ arbeitet – bestimmt keine Zufälle. Ist alles nur Imagination, entstammt es seiner Feder? Was ist das für ein blutig waberndes Ungetüm, in das Bernard einmal hineinsteigt? Ein Sinnbild für den Tumor im Kopf seines Vaters? Einfache Antworten verweigert das tierisch bewohnte, psychoanalytisch angelegte Spiegelkabinett, und diese Deutungsoffenheit ist eine Stärke von „Der Kuss des Grashüpfers“.
Imanov erzählt mit konkreter Abstraktion von einer Abnabelung, mit Küchenpsychologie kommt man nicht weit. Man müsse den Menschen helfen, die Trauer an sich ranzulassen wie ein wildes Tier, meint der verschrobene Redakteur beim inhaltlichen Vorgespräch für Bernards Essay. Der Film endet mit einem Sprung aus dem eingangs erwähnten Fenster, bevor wir buchstäblich eintauchen. Wer ist hier das wilde Tier?
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