piwik no script img

Dreitägiger Streik in BelgienAuf die Straße gegen den „Rentenraub“

Gegen den Sparkurs der rechtsliberalen belgischen Regierung legen Beschäftigte die Arbeit nieder. Für Mittwoch rufen Gewerkschaften zum Generalstreik auf.

Belgiens Premierminister De Wever quittierte den historischen Streik auf seine Art: mit noch mehr Einsparungen Foto: Didier Lebrun/imago
Eric Bonse

Aus Brüssel

Eric Bonse

Das hat Belgien seit den wilden 80er Jahren nicht mehr erlebt: Die Gewerkschaften haben nicht einen, sondern gleich drei Tage „grève nationale“, also einen landesweiten Streik, ausgerufen. Mit den Protesten, die am Montag begannen und bis Mittwoch dauern sollen, wollen die Arbeitnehmervertreter gegen die Austeritätspolitik der rechtsliberalen Regierung um Premierminister Bart De Wever (N-VA, flämische Nationalisten) protestieren.

De Wever quittierte den historischen Streik auf seine Art: mit noch mehr Zumutungen. Wenige Stunden nachdem Eisenbahner, Bus- und Metrofahrer und andere öffentlich Bedienstete die Arbeit niedergelegt hatten, verkündete der Premier eine Einigung im wochenlangen Budgetstreit. Sie sieht Einsparungen im Haushalt in Höhe von 9,2 Milliarden Euro vor. Die Maßnahmen, die bis 2029 umgesetzt werden sollen, bringen weitere soziale Einschnitte.

So sollen 2 Milliarden Euro im Gesundheitswesen gekürzt werden. Die sogenannte „Arizona“-Regierung will außerdem 100.000 Langzeitpatienten wieder in Lohn und Brot bringen, um noch mehr Geld einzusparen. Auch soll die Mehrwertsteuer beim Gas und bei sportlichen Aktivitäten, wie Vereinsmitgliedschaften oder Stadionbesuchen steigen, während der automatische Inflationsausgleich bei Löhnen ab 4.000 Euro brutto im Monat ausgesetzt wird. Für Belgien kommt dies einem Tabubruch gleich.

Es gehörte nämlich zu den sozialen Errungenschaften, dass die Löhne automatisch an die Preise angepasst wurden. Arbeitslosenbezüge wurden auch nach mehreren Jahren nicht gekürzt. Mehr als eine halbe Million Belgierinnen und Belgier sind aus gesundheitlichen Gründen seit mehr als einem Jahr krankgeschrieben und bekommen umfangreiche Unterstützung. All dies will bzw. muss die Regierung nun zusammenstreichen.

Linke Opposition spricht von „Rentenraub“

Der Zwang kommt von den Finanzmärkten, die hohe Zinsen für den riesigen belgischen Schuldenberg verlangen, aber auch von der EU. Die EU-Kommission hat Belgien zum Abbau seines Defizits verdonnert, zugleich aber höhere Ausgaben für die Rüstung gefordert. Auf diese Quadratur des Kreises antwortet die Regierung mit einem Sparkurs, der wesentlich härter ist als in Deutschland oder anderen Nachbarländern. Entsprechend hart fällt auch die Reaktion der Gewerkschaften aus. Sozialdialog? Fehlanzeige!

Statt auf die Streikenden zuzugehen, goss De Wever sogar noch Öl ins Feuer. „Ich will ehrlich sein: Jeder wird es in seiner Brieftasche spüren“, erklärte er bei der Präsentation seiner Sparpläne; „wenn Sie es nicht wagen, schmerzhafte Entscheidungen zu treffen, dann sind Sie des Regierens nicht würdig.“ Um seinen Austeritätskurs durchzudrücken, hatte De Wever sogar mit dem Rücktritt gedroht und eine Frist bis Weihnachten gesetzt.

Nun kann der flämische Politiker weitermachen, seine Koalition hat den Streit vorerst beigelegt. Doch auf der Straße brodelt es. Das Volk ist unzufrieden, wie zwei zufällig ausgewählte Stimmen zeigen. „Wenn man uns noch mehr wegnimmt, weiß ich nicht, wovon ich leben soll“, sagt Simone, eine 79-jährige pensionierte Landwirtin. „Die Maßnahmen werden den belgischen Sport schwer treffen“, fürchtet Jeremy, ein 30-jähriger Sportlehrer.

Die linke Opposition greift die Unzufriedenheit auf. „Diese Maßnahmen haben keine Legitimation, keine Partei hatte sie in ihrem Wahlprogramm“, sagt Raoul Hedebouw, Chef der linksradikalen Partei der Arbeiter PTB. Der Regierung, die auch das Renteneintrittsalter auf 67 anheben will, wirft er „Rentenraub“ und einen „Angriff auf die Kaufkraft“ vor. Ähnliche Töne kommen vom wallonischen Sozialistenchef Paul Magnette. Jeder zweite Arbeitnehmer werde unter den Sparmaßnahmen leiden, kritisiert er.

Bei den Streikenden haben De Wevers Ankündigungen wie eine Bombe eingeschlagen. Sie wollen ihre Proteste nun sogar noch ausweiten. Nach dem Schienenverkehr am Montag sollen am Dienstag Krankenhäuser, Kindertagesstätten und Schulen bestreikt werden. Für Mittwoch haben die Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen, der Flugverkehr in Brüssel wird eingestellt. Die EU scheint das aber nicht zu stören – sie macht weiter, als wenn nichts wäre.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare