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Drastischer Roman über MutterschaftDie Seele aus dem Leib geschrieben

Noch ein Roman über Kinderkriegen, Care-Arbeit, Mutterschaft? Ja, unbedingt, wenn er denn so schlau und heftig ist wie Julia Frieses Debüt „MTTR“.

Was Mütter alles mit sich machen lassen: schwangere Frau im Krankenhaus Foto: Annette Riedl/picture alliance

Eine Tabelle. Mit spitzem Stift und klarer Kante auf ein Blatt gezogen. In die man Uhrzeiten notiert. Die ganz genaue Zeit, während das rote, röchelnde Baby an den entzündeten Brustwarzen saugt, bis man sich vor Schmerz in den Handrücken beißt. Vier Minuten an der linken Brust. Zwei an der rechten. 12.36 Uhr. Aufschreiben! Damit man überprüfen kann, ob das Baby überlebt.

Und manisch fast trägt man ein, um ein wenig Kontrolle zurückzugewinnen, wo schon lange keine Kontrolle mehr ist. Um nicht zu fühlen, sondern Tabellen zu haben. Nur um das Trauma der Geburt, der Fortpflanzung, der Menschmachung wieder in den Griff zu kriegen. Komisch, dass Mütter das machen.

So eine Tabelle beschreibt auch Julia Friese in ihrem gewaltigen Debütroman „MTTR“. Der handelt von Teresa Borsig, Mitte 30, die nicht so genau weiß, ob Kind oder nicht, aus Sorge, einen weiteren gefühlskalten deutschen Menschen zu machen. Die dann doch ein Kind bekommt und versucht, das irgendwie alles richtig zu machen. Vor allem anders als die Eltern.

Wieso denn jetzt schon wieder ein Buch über Mutterschaft und Care-Arbeit und den ganzen Quatsch? War, zugegeben, ein kurzer Gedanke beim Blick auf das Cover. Aber diese Gedanken sind eben schon Ausdruck des Problems. Es gibt diese literarische Aufarbeitung von Babys-Rauspressen nämlich gar nicht so oft, wie man denken könnte. Nicht so umfangreich. Nicht so gut. Nicht so schlau vor allem. Und nicht so angehend.

Der Roman

Julia Friese: „MTTR“. Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 421 Seiten, 24 Euro

„MTTR“ ist deswegen kein Buch, in das man sonderlich gerne zurückgeht, weil Friese brutal und in all den vermeintlichen Kleinigkeiten aufschreibt, wie das ist, wenn man Freunde verliert, Blut, die eigenen Prinzipien. Doch immer dann, wenn man auf eine Retraumatisierung zu liest, wird Friese wieder sehr lustig.

Hängend gebären

Beschreibt die verschiedenen Typen im Geburtsvorbereitungskurs, wie man auffällt, weil man sich keine Gedanken gemacht hat, ob man an einer Sprossenwand hängend gebären will, tischt Hasenbraten der Schwiegermutter im heimatlichen Kleingarten auf oder lässt die Eltern das Abenteuer Großstadtbesuch wagen. Und dabei wird die Autorin angemessen poetisch, selbst wenn sie nur einen automatisierten Eingang beschreibt: „Die Glastür wich mir aus.“

Julia Friese ist Kulturjournalistin und hat mal einen egalen Musikjournopreis gewonnen, um ihre Relevanz zu unterstreichen sollte man unbedingt ihre aufregenden Interviews wie mit Sophie Hunger erwähnen, ihre feinen Porträts, wie das von Sängerin Soap&Skin. Friese ist eine zweifelnde Schwärmerin, die sich ganz in ihre Texte und ihre Sujets wirft. Und in ihrem Debütroman, so scheint es, hat sie sich die Seele aus dem Leib geschrieben. Mit dieser sezierten, allumfassenden Beschreibung der Elternwerdung, die hier mit kurzen, manchmal schmerzenden Sätzen auf einen eindrischt.

Reiß dich zusammen

Doch der Buch-Titel ist nicht (nur) als hippe Abkürzung der Rollenzuschreibung zu lesen, sondern bedeutet „Meantime to recover“ und ist eine technische Abkürzung dafür, wie lange ein System nach einem Ausfall braucht, um wieder rund zu laufen, so lernen wir auf der ersten Seite. Und auch das könnte man natürlich jetzt auf den Frauenkörper beziehen, Scheidenrisse, die wieder zusammenwachsen müssen, wunde Brustwarze, die heilen müssen, der ganze Körper, der aus dem Besitz des Krankenhauses, der Gesellschaft zurückerobert werden muss.

Die ganze Nazi-Scheiße und all das, das steckt ja immer noch in der Muttermilch

Aber es geht gar nicht nur um Mütter, die Frau muss sich hier gar nicht nur um sich selbst drehen, es geht in „MTTR“ auch um das System Deutschland, das wieder laufen muss. Das Nachnazideutschland, das, wie Friese hier augenöffnend beschreibt, stattdessen auch heute auf Familie und dem Weg dahin wirkt. Die ganze Nazi-Scheiße steckt ja noch in der Muttermilch. Kann man darin Kinder kriegen?

Es geht also auch um Borsigs Eltern und die des Kindsvaters, um die ganzen Mikroaggressionen, die in die Erziehung noch hineinwirken.

Reiß dich zusammen. Das macht man nicht. Das gehört sich nicht. Du musst was essen. Weißt du eigentlich, wie gut du es hast. Verwöhnt bist du. Komm da jetzt weg. Guck da nicht hin. Asozial ist das. Das Hartmachen, das Selbstständigmachen mit Entziehung der Liebe. Friese schreibt das mit Wut aber auch viel Humor auf.

Mit Nadeln perforiert

Sie beschreibt auch, wie eine selbstausbeuterische Arbeitsmoral auf Familien wirkt, wie in Kleinbürgerlichkeit Abschottung vor den anderen gelehrt wird. Wie in der Reproduktion alles geregelt, abgekürzt, eingedampft, zurückgestellt, automatisiert ist. Mutterpass. Wehenschreiber. Pränataldiagnostik. Das gerade geborene Baby wird den Eltern entzogen, mit Nadeln perforiert, in einem Kranken­haus­system, das nicht zum Wohl des Menschen arbeitet, sondern zum Wohl des Kapitals (und dass wir uns das gefallen lassen, ist ja wirklich eines der unglaublichsten Skandale überhaupt).

Nun ist allerdings nicht ganz klar, was das Gegenmodell ist. Die Natürlichkeit, die immer mal wieder vorkommt? Die Protagonistin etwa will nicht stillen, damit auch der Vater sich früh kümmern kann. Und tut es dann doch. Wegen des Kolostrums.

Ob die Brust nah am Milchschorf Eltern und Kind glücklicher macht oder ob die Autorin das Natürliche auch als Teil dieser Naziideologie entlarvt, bleibt offen. Im besten Falle kann man es als Hinweis lesen, die Ideologie aus der Fortpflanzung zu nehmen.

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2 Kommentare

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  • Mit Verlaub, ich habe das Buch nicht gelesen, aber die Behauptung, dass in Deutschland Neugeborene den Eltern nach der Geburt den Eltern entzogen werden und mit Nadeln traktiert werden, damit irgendwer finanziellen Gewinn macht, ist hochgradiger Unsinn. Kein gesundes Neugeborenes wird in Deutschland Eltern nach der Geburt entzogen und Neugeborene werden, ohne Aufklärung und Einwilligung, auch nicjt einfach so mit "Nadeln traktiert". Und wenn dies durchgeführt wird, gibt es medizinische Gründe hierfür, die der Vermeidung von Schäden beim Neugeborene dienen. Da das Krankenhaus für das Neugeborene eine Pauschale erhält, würde im Gegenteil die Verweigerung, indizierte diagnostische Maßnahmen durchzuführen, dem Krankenhaus Geld einbringen.



    Das ganze ist leider irrationales Querdenker-Geraune. Hochgejizzt in der taz.

    • @Ignaz Wrobel:

      Sehr geehrter Ignaz Wrobel,

      ich habe das Buch auch nicht gelesen.



      Aber ich habe mein erstes Kind im Krankenhaus bekommen, alle weiteren zu Hause. Dafür gab es Gründe.



      Ich vermute, daß die Autorin die Geburt eines Kindes aus der Perspektive der Mutter und nicht aus der Berufspraxis der Hebamme beschreibt. Sie haben sicher Recht damit, daß nicht jedes in einem Krankenhaus geborene Kind sofort mit "Nadeln traktiert" wird. Vielleicht hat es die Autorin anders erlebt oder diejenigen, die sie für das Buch interviewt hat. Denn es gibt die Praxis in deutschen Krankenhäusern, daß dort vieles präventiv und nach Liste abgearbeitet wird.



      Beispiel: Entnahme von Fersenblut:



      Dabei wird die Ferse des Neugeborenen mit einer scharfen Klinge (Lanzette) aufgeschlitzt und das austretende Blut auf ein Stück Papier (das hat dafür markierte Zonen) gepreßt, das dann in ein Labor geschickt und getestet wird. Diese Prozedur kann unterschiedlich durchgeführt werden. Wenn der Fuß des Kindes einige Zeit in warmem Wasser verbracht hat, also die Ferse gut durchblutet ist, fließt das Blut leicht und es muß an der Wunde nicht gedrückt werden. Die zeitsparende Variante ist ein warmer Waschlappen zur Beruhigung der Eltern und festes Drücken. Das führt dazu, daß das Neugeborene an der Ferse einen Bluterguß hat, der oftmals über zwei bis drei Wochen bestehen bleibt und dafür sorgt, daß manche Kinder nicht an die Füße gefaßt werden wollen oder schreien, sobald man versucht ihnen Strümpfe anzuziehen. Das ist kein Querdenker-Geraune, sondern Praxis auf mindestens drei Entbindungsstationen in deutschen Krankenhäusern.



      Teil des Problems ist, daß das von den ausführenden Personen oft wenig reflektiert wird.