Drama um Meeressäuger in Kanada: Ein Buckelwal auf Abwegen
Über 1.000 Kilometer ist ein tonnenschwerer Meeressäuger vom Atlantik bis ins kanadische Montréal geschwommen. Nun ist er gestorben, die Ursache ist unklar.
Über tausend Kilometer war der Wal aus seiner natürlichen Heimat im Atlantik bis ins Landesinnere Kanadas geschwommen, von der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms bis zur Jacques-Cartier-Brücke am alten Hafen von Montréal. Oft hatte er gegen die Strömung des immer enger werdenden Flusses kämpfen müssen, geräuschlos war er unter Brücken hindurch geglitten, vorbei an Schleusen und Frachtschiffen, gesäumt von tausenden begeisterten Schaulustigen am Ufer. Noch nie hatte es ein Buckelwal je so weit bis nach Montréal geschafft.
Schon bald nach seiner Ankunft löste der Wal neben Freude auch Sorgen bei seinen Fans aus: Würde er so weit entfernt von seiner natürlichen Heimat überleben können? Würde er den Schiffen und Tankern ausweichen und dem Verkehrslärm und den Abwässern trotzen? Würde er genügend Futter finden? Am Sonntag noch schien der Wal bei bester Gesundheit, danach wurde er nicht mehr gesichtet.
Bewohner wie Biologen hatten seitdem um ihn gebangt. Sie hatten gehofft, dass sich der Wal nach zehn Tagen Aufenthalt schlicht auf seine Heimreise begeben hatte, vom Süßwasserhafen in Montréal zurück in die salzhaltigen Gewässer flussabwärts. Doch am Dienstag dann der Schock: Der junge Buckelwal, der lange vielen Widrigkeiten getrotzt hatte, hat seine Odyssee in die Großstadt am Ende nicht überlebt.
Wale überleben im Süßwasser nur wenige Wochen
Am frühen Morgen fand ein Hafenlotse den leblosen Körper des Wals etwa dreißig Kilometer flussabwärts von Montréal im Wasser treiben. „Wir hatten alle gehofft, er würde irgendwie seinen Weg zurück ins Meer finden“, berichtete der Lotse Simon Lebrun, der den Wal Ende Mai auch als erster vor den Toren der Stadt gesichtet hatte. Wie viele Kanadier sei er jetzt nur noch traurig.
Laut Meeresbiologen ist es äußerst ungewöhnlich, dass ein Wal so weit vom Atlantik ins Landesinnere ins Süßwasser schwimmt, wo er in der Regel nur wenige Wochen überleben kann. In Montréal hatte man in den letzten Jahren daher nur vereinzelt kleinere Mink- oder Belugawale gesichtet, nie aber einen so mächtigen Buckelwal.
Laut Experten war der Wal etwa zwei bis drei Jahre alt, zehn Meter lang und weit über zehn Tonnen schwer. Forscher der Universität von Montréal und Beamte der kanadischen Fischereibehörde haben seinen toten Körper jetzt aus dem Fluss geborgen und wollen ihn obduzieren. Fragen, die eine solche Untersuchung beantworten könnte, gibt es zuhauf: Warum schwomm der Wal überhaupt nach Montréal? Folgte er Fischschwärmen oder hatte er sich schlicht verirrt? War er krank?
„Vielleicht war er auf der Suche nach neuen Futtergründen, vielleicht hatte er auch gesundheitliche Probleme und war desorientiert“, mutmaßte die Sprecherin des Meeressäugerrettungsnetzwerks der kanadischen Provinz Québec, Marie-Eve Muller. Denkbar sei auch, dass der Säuger aus jugendlichem Leichtsinn handelte und schlicht neugierig war.
Todesursache unklar
Wissenschaftler und Tierschützer rätseln auch, woran der populäre Meeressäuger am Ende starb: War er verletzt oder hungrig? Kollidierte er mit einem Schiff? Die Mitarbeiter des Netzwerkes hatten den Wal täglich beobachtet und keinerlei auffälliges Verhalten beobachtet. Bis auf einen sichtbaren Hautausschlag hatten sie auch keine Anzeichen für eine Erkrankung ausgemacht.
Diskutiert wird in Kanada nun die Frage, ob man den Wal rechtzeitig zurück ins Meer hätte geleiten können, etwa mit Schiffen oder mit Hilfe von Unterwasserschallwellen. Tierschützer jedoch winken ab: „Am besten ist es, man lässt der Natur in solchen Fällen ihren Lauf“, sagte Muller dem Sender CTV. Menschliche Rettungsversuche seien zwar immer wieder erprobt worden, hätten sich aber oft als zu riskant und wenig erfolgversprechend erwiesen.
Einen guten Aspekt können Umweltschützer wie Muller der Odyssee bei aller Tragik aber abgewinnen. Der junge Buckelwal habe den Menschen vor Augen geführt, dass der Sankt-Lorenz-Strom nicht nur ein Verkehrsweg, sondern auch ein Ökosystem ist. Viele Großstädter hätten in den vergangenen Tagen zum ersten Mal einen leibhaftigen Wal gesehen und seien jetzt sensibilisiert für den Schutz der Meeressäuger. „Vielleicht machen wir uns zukünftig mehr Gedanken darüber, was wir so in unsere Flüsse leiten, wie viel Schiffsverkehr wir wirklich brauchen, wie wir unsere Gewässer besser mit den Tieren teilen können“, hofft Muller.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland