Dragqueens beim Wrestling: Ringen bis zum Untergang
Den oft sexistischen, homophoben und rassistischen Wrestlingshows in den USA setzt die Gruppe Choke Hole ein queeres Spektakel entgegen.

Herzlich willkommen zum Ende der Welt! In einem viereckigen Ring steht ein menschengroßes Insekt. In den Händen: eine überdimensionierte Flasche Insektenspray mit der Aufschrift „Kills on contact“ – tötet bei Kontakt. Gegenüber ein*e Prediger*in, bewaffnet mit einer ebenso überdimensionalen Hostie – oder ist es eine Pille? Gleich werden sie sich gegenseitig durch den Ring jagen und sich unter dem Jubel des Publikums die riesenhaften Requisiten um die Ohren schlagen. Zerbröselnde Hostienstücke fliegen in die Zuschauermenge.
Herzlich willkommen zum „Extreme Drag Wrestling“-Spektakel „Armageddon“! In der Mitte der K6, der größten Hallenbühne des Theaters Kampnagel Hamburg, ist ein sogenannter squared circle, ein Wrestlingring, aufgebaut. Hier wird an diesem Abend der Weltuntergang eingeläutet. Performt wird die Apokalypse von den US-amerikanischen, queeren Drag-Wrestling-Stars der Gruppe Choke Hole: mit dabei Jassy, Visqueen, Gorleenyah, RAID, Jocylene Change, Miss Toto, Otto Von Blotto, Laveau Contraire und Trisha Bing Bong. Unterstützt werden sie von den lokalen Dragqueens Gitte Schmitz als Schiedsrichter*in und Felicia Diamond als Ringgirl sowie den Berliner Dragperformer*innen Gieza Poke, Ivana Dicic, Aurah Jendafaaq und Patry Coal.
Es ist ein besonderer Abend. Ein Abend, an dem politischer Kommentar, populistische Strategien und queere Communityarbeit extrem clever kombiniert sind. Aufgeführt wird das Spektakel mit viel Lust an Übertreibung, liebevollem Trash und exaltiertem Kitsch. Choke Hole bedienen sich bei der selbst schon ziemlich extremen Welt des Professional Wrestlings und nehmen sie als performative Blaupause für ihr Format: Die Inszenierungsstrategien werden zugespitzt, die Codes übertrieben – und verqueert. Was entsteht, nennen sie „XXXTREME QUEER WRESTLING“.
Näher am Tanz als am Boxen
Wrestling also. Da war doch was? Erste Assoziationen bei vielen dürften TV-Erinnerungen der 90er Jahre sein: Bilder von verschwitzen, muskulösen, hypermännlichen Körpern in knapp sitzenden, glitzernden Spandexhöschen. Einmal im Ring werfen sich die Gegner*innen mit brutalen Griffen gekonnt durch die Luft und landen mit lautem Krachen auf dem Boden. All das geschieht vor den Augen eines jubelnden Publikums. Ein*e Schiedsrichter*in und ein*e Livekommentator*in durften nicht fehlen. Was aussieht wie ein sportliches Kräftemessen, ist in Wahrheit reine Show: Ablauf und Ausgang des Kampfs sind zuvor festgelegt. Der Kampf selbst ist zwar nicht bis ins letzte Detail inszeniert, basiert jedoch auf einer hochgradig akrobatischen Technik, die nur in Zusammenarbeit ausgeführt werden kann.
Das scheinbar harte Gegeneinander der Körper ist eine Art Pas de deux, näher am Tanz als am Boxen. Die Performer*innen haben die Bewegungsabfolgen so verinnerlicht, dass sie sofort aufeinander reagieren können – etwa beim „Bodyslam“, wenn die Gegner*innen auf die Schulter gewuchtet und dann mit großer Geste auf den Boden geschmettert werden.
Die Performer*innen im Ring treten dabei als Kunstfiguren auf, als skurrile und überzeichnete Charaktere. Vom ultramaskulinen Superhelden bis hin zu übernatürlich dämonischen Wesen verkörpern sie stets zwei Archetypen: die moralisch einwandfreie und fair kämpfende Held*in, im Jargon „Face“, die gegen das Böse, den „Heel“, antritt. Die Negativfigur scheut keine schmutzigen Tricks, beleidigt ihre Gegner*innen und gerne auch das anwesende Publikum.
Die Vorbilder stammen aus der Popkultur und fußen beim Professional Wrestling meist auf einem cis-binären Genderideal. Garniert wird das Ganze mit Kostümen, Requisiten und einer persönlichen Backstory, die den narrativen Überbau für den Showdown abgibt. Diese konstruierten Geschichten, die vor dem Kampf als Videoeinspieler gezeigt werden, erstrecken sich meistens über mehrere Showabende und liefern die tiefere Bedeutung für jede Begegnung im Ring. Alles nur Fake?
Stillschweigende Vereinbarung
Im Fachjargon spricht mensch von „Kayfabe“. Dieser Begriff bezeichnet die stillschweigende Vereinbarung zwischen Zuschauer*innen, Performer*innen und Veranstalter*innen, dass alles, was während einer Aufführung im und um den Ring passiert, als „echt“ zu verstehen ist – begleitet von Applaus, Jubel oder mitfühlendem Stöhnen. Es ist genau diese Vereinbarung, die Professional Wrestling zu einer außergewöhnlichen Performance macht. Professional Wrestling ist in diesem Sinne ein „falscher“ Sport, getarnt mit sportiven Attributen wie Ringrichter*innen, Regelwerk und Ringglocke.
Aber auch ein anderer naheliegender Vergleich, der mit Theater, passt nicht ganz. Beispielsweise spielen die Ringcharaktere zwar eine Rolle, doch im Gegensatz zu Schauspieler*innen treten die Pro Wrestler*innen am Ende der Veranstaltung nicht aus dieser heraus. Sie bleiben nach der Show als nahbare Charaktere, um mit den Zuschauer*innen zu reden und Fotos zu machen.
Professional Wrestling verfolgt ein Ziel: die Unterhaltung der Zuschauer*innen. Das Publikum ist bei diesem Körperspektakel die dritte und entscheidende Mitspielerin. Es sind die Zuschauer*innen, die die nötige emotionale Realität beisteuern – indem sie jeden Schlag oder Move lautstark bestätigen und, wenigstens für die Dauer der Show, die fiktive Realität miterschaffen – obwohl sie wissen, dass es sich um bloße Inszenierung handelt – gerade auch beim „XXXTREME QUEER WRESTLING“.
Die Unterhaltung steht hier aber unter anderen Vorzeichen. Denn im Kontext des Mainstream Professional Wrestlings gibt es immer wieder und nach wie vor sexistische, homo- und queerphobe sowie rassistische Äußerungen. Das gilt besonders für die USA, etwa bei World Wrestling Entertainment (WWE), wo eine ideologische Nähe zum Maga-Faschismus vorherrscht. Donald Trump selbst stand 2007 beim „Battle of the Billionaires“ im Ring und verwendet auch ansonsten gerne eine Art politisches „Kayfabe“, in dem er sich seine eigene Realität baut.
Gesellschaftskritische Unterhaltung
Daneben existieren jedoch Verbände, etwa AEW (All Elite Wrestling) in den USA oder wXw in Deutschland, die unter der Devise „Love Wrestling – Hate Racism!“ antreten. Gruppen wie Choke Hole haben darüber hinaus einen noch künstlerischeren Zugriff auf Pro Wrestling und arbeiten mit hemmungsloser Übertreibung, Genderinszenierung und Slang aus der Dragszene.
Damit kehrt die Truppe zu den Ursprüngen des Showsports zurück: zur Unterhaltung als poppolitischem Gesellschaftskommentar. Die Performer*innen von Choke Hole enthüllen, was im Pro Wrestling sonst unterdrückt wird: die homoerotische Aufladung zweier schwitzender, keuchender Körper, die in ihrer Hyperkünstlichkeit darauf verweisen, dass Gender eine Konstruktion ist, die auch anders aussehen kann als nur männlich oder weiblich.
Dies wird bei „Armageddon“ vorgeführt. Die Storyline der Show dreht sich darum, dass Gorleenyah, intergalaktischer Fernsehmogul und Besitzer*in des Wrestlingteams Choke Hole, die Codes für die nuklearen Waffen aus dem Weißen Haus gestohlen hat. Jassy, „the Busty Billionaire“, versucht diese Codes mit allen Mitteln an sich zu bringen.
Unterstützt wird Gorleenyah durch ihre Co-Hostess und „Head of Security“ Visqueen, einem halb automatischen Sexroboter, dessen eines Bein aus einem Maschinengewehr besteht. Zu Hilfe kommen weitere Dragwrestler*innen, etwa Gieza Poke, die sich einen eindrucksvollen Kampf mit der bösen Billionär*in liefert.
Abgesang auf patriarchale Männlichkeit
Es geht um das Aufeinandertreffen von Ideologien, die hier in den flamboyanten Dragcharakteren verkörpert werden, und es geht um den Applaus, die Liebe und Überzeugungen des Publikums. Jassy ist die Verkörperung eines neoliberalen, trumpschen Egokapitalisten, dem alles und alle anderen egal sind. Patry Coal, toxischer Sugardaddy, lebt mittlerweile in einem Müllcontainer und wird – ein Abgesang auf eine patriarchale, cis Männlichkeit – von seinem Ex-Sugarbaby Ivana Dicic mit einer riesigen Kreditkarte durch den Ring gejagt.
Die positiv besetzte Gegenspieler*in, also „Face“, ist das Insekt RAID, ein mutierter Käfer, der für alle kämpft, die wie „Scheiße“ behandelt werden. „If you smell like shit, if they treat you like shit – then you are the shit“ – so lautet die Parole, mit der sich RAID mit vollem Körpereinsatz gegen die autokratischen, machtgierigen Demagogen stemmt. Und es hat etwas Erleichterndes, etwas extrem Befriedigendes, wenn wenigstens hier einmal diejenigen die Oberhand gewinnen, denen wir zujubeln wollen.
RAID hat am Ende des Abends die Riege der „guten“ Figuren zur Revolution geführt, das mutierte Insekt schafft es, die geklauten Nuklearcodes zu ergattern, und löst dann trotzdem noch die Apokalypse aus. Aber kein Grund zur Sorge, denn wir alle haben es in den Himmel geschafft und tanzen dort gemeinsam zu Robyns „Dancing on My Own“ – und wenn das der Weltuntergang sein soll, dann ist dies sicher die schönste Version.
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