Dossier Arabische Revolution: Die Großen und der Kuchen
Die Medien in Tunesien sind noch nicht wirklich frei, sagt Lina Ben Mhenni. Deswegen heißt es: wachsam bleiben, aufklären, weiterbloggen.
Am 14. Januar 2011, nach 23 Jahren der Unterdrückung, Verfolgung und des Unrechts, trat ein Diktator die Flucht an. Vor Freude kletterten die Tunesier auf die Dächer ihrer Häuser und stimmten die Nationalhymne an, obwohl die Armee den Ausnahmezustand verhängt hatte. "Wir sind frei, frei", riefen sie. Aber stimmt das auch?
Über die Zusammensetzung der Übergangsregierung gab es lange Diskussionen. Viele waren unzufrieden, weil sie mehrheitlich aus Parteigängern des entthronten Präsidenten bestand. Die Menschen aus den inneren Landesteilen wie Sidi Bouzid (wo alles angefangen hat) oder Kasserine, Regueb und Thala (wo es die meisten Toten gab) machten Sit-ins auf dem Regierungsplatz in Tunis.
Die Bewohner von Tunis brachten ihnen Nahrungsmittel, Medikamente, Decken und Zelte. Unter dem öffentlichen Druck wurde die Übergangsregierung neu zusammengestellt, trotzdem waren manche unzufrieden, ihnen war der Wandel nicht radikal genug.
Die ganze Zeit über versuchen wir jungen Leute etwas zu beobachten und zu verstehen, das nur ein unscharfes Bild ergibt. Man sieht einen großen Kuchen, den sich die Großen zu teilen versuchen, wobei sie vergessen, wer für ihre Freiheit gekämpft hat. Uns ist klar, dass unser Land in großer Gefahr schwebt. Jeder versucht auf seine Weise zu helfen.
LINA BEN MHENNI, 27, bekannteste Bloggerin in Tunesien, im April 20011 kommt sie zum taz-Medienkongress.
Diese und andere Stimmen aus der arabischen Welt können Sie in der Donnerstagsausgabe, 17. Februar, in der taz auf sechs Seiten lesen. Die Beteiligten des Aufstands in Ägypten, Tunesien und anderen arabischen Ländern sprechen über ihre Ziele, Hoffnungen und Ängste. Am Kiosk oder am E-Kiosk, www.taz.de/ekiosk.
Mit meinen Blogger-Freundinnen und -Freunden beobachten wir die Lage und melden sofort, wenn jemand versucht, diese neuen Freiheiten zu beeinträchtigen. Wir wissen, dass unsere Medien noch nicht wirklich frei oder befreit sind. Wir sammeln Zeugenaussagen der Leute, denen Unrecht oder Gewalt angetan wurde, und veröffentlichen sie in unseren Blogs, auf Facebook oder Twitter. Wir versuchen all die Leute anzuprangern, die vom alten Regime profitiert und jetzt die Seite gewechselt haben, um ihre Privilegien zu sichern.
Wir kümmern uns jetzt darum, den unaufgeklärten Jugendlichen auf die Sprünge zu helfen. Sie sind Opfer des alten Regimes, das uns zu Idioten gemacht hat, die sich nur für Fußball und Clubnächte interessieren sollten.
Die jungen Leute geben nicht auf. Sie haben ihren Mut unter Beweis gestellt und tun das auch weiterhin. Wir haben begriffen, dass die Revolution noch immer im Gang ist, dass wir weiterkämpfen müssen. Es stimmt, der Weg ist lang, aber wir haben die Geduld, die Energie und die Intelligenz, um unseren Traum von Freiheit und Demokratie zu verwirklichen.
Aus dem Französischen von Sabine Seifert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt