Dorado für Schatzsucher: Die Duette von Maître und Crieur
Im Pariser Hôtel Drouot wird auf drei Etagen Tag für Tag viel versteigert: Gemälde, Möbel, Schmuck, Musikinstrumente. Sogar Saurierskelette.
![ein riesiger Saurierkopf im Schaufenster des Hotel Drouot und eine Passantin, die ihn bestaunt ein riesiger Saurierkopf im Schaufenster des Hotel Drouot und eine Passantin, die ihn bestaunt](https://taz.de/picture/5184949/14/hoteldrouot-paris-1.jpeg)
Unweit der Grands Boulevards steht das Hôtel Drouot, ein ziemlich brutalistisches 80er-Jahre-Eckgebäude aus Glas und Metall, satellitengleich umgeben von den Läden der Antiquitätenhändler, der Experten und Schätzer. Ein Dorado für Sammler, Händler, Museumskuratoren, Glücksritter und Schatzsucher.
Auf drei Etagen werden Tag für Tag in 15 Sälen Gemälde, Möbel, Schmuck, Kunstgewerbe, Musikinstrumente, Bücher und all die anderen Sachen versteigert – Gutes, Schreckliches, Sammelwürdiges und Seltsames. Seit mehr als 160 Jahren, als die Kammer der französischen Commissaires-Priseurs das Grundstück an der Rue Drouot von der Stadt erwarb und sich verpflichtete, ausschließlich in dem dort errichteten Gebäude zu versteigern.
Ausländische Auktionatoren waren grundsätzlich nicht zugelassen. Das lag schon daran, dass seinerzeit in Frankreich im Wesentlichen nur staatlich angeordnete Versteigerungen abgehalten wurden.
Jederzeit einsehbares Archiv
Die Geschäfte liefen gut. Kunst ist nicht erst in jüngster Zeit Spekulationsobjekt und vielversprechende Anlage. Hervorragende Umsätze machte das Drouot Im Zweiten Weltkrieg, als viel (Schwarz-)Geld im ziellosen Umlauf war, was dem gut ausgestatteten Archiv zu entnehmen ist, das jederzeit eingesehen werden kann.
Das war nicht immer so, gehört aber heute zur Politik der Transparenz, die übrigens jedem Auktionshaus gut anstünde. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts änderte sich ohnehin einiges. Das Staatsmonopol der Versteigerer wurde aufgehoben, infolgedessen hat sich schon bald das Verhältnis von Zwangsversteigerungen zu freiwilligen Versteigerungen komplett gedreht.
Ausländische Firmen konnten sich niederlassen – Christie’s und Sotheby's waren umgehend in der Stadt. Etliche Commissaires-Priseurs zogen es nun vor, eigene Geschäftsräume zu beziehen. Gut siebzig Versteigerer blieben und wurden Teilhaber am Hôtel Drouot, das in eine Gesellschaft überführt worden war.
Hübsch anachronistisch anzuschauendes Szenario
Hübsch anachronistisch blieb das tägliche Szenario noch eine ganze Weile. Es blitzten immer noch die grotesken Daumier-Momente auf, wenn der Maître den Hammer hob, während der ihm assistierende Experte das jeweilige Los monoton vorstellte. Daneben saßen die originell herausgeputzte Kassiererin, ein Protokollant, der Organisator der Auktion, ein Mitarbeiter, der Auftragsgebote wahrnahm, und um ein Laptop scharten sich Beobachter des Online-Bietgeschehens.
Vor diesem dicht gedrängten Personal schritt der Crieur auf und ab und rief die Gebotsschritte in den Saal. Er echote, sang, mal schien ein Klagen mitzuschwingen, mal Triumph, wenn die Hände hochschnellten. Das Duett von Maître und Crieur glich einer Performance, mal zu Ehren zweier versilberter Kerzenständer, mal in Erwartung eines mindestens sechsstelligen Höchstgebots für eine Stradivari.
Der Crieur überreichte dem siegreichen Bieter einen Coupon und beschleunigte dessen Gang zur Kasse. Währenddessen rappte er erneut seine Zahlen, grüßte einen Stammkunden, kommentierte dessen Kauf mit einer launigen Bemerkung und achtete darauf, dass der Col rouge auch das richtige Stück vorzeigte.
Drouot 2.0 ist längst Versteigerungsalltag
Ganz so anachronistisch läuft es heute nicht mehr. Drouot 2.0 ist längst schon Versteigerungsalltag. Und die Cols rouges, die hierarchisch organisierten Arbeiter, die für die Lagerverwaltung und Warenausgabe zuständig waren? Lange hatten sie einen Staat im Staate gebildet. Ihre roten Krawatten trugen ihnen den Spitznamen ein. Savoyards wurden sie auch genannt, denn sie kamen seit eh und je aus Savoyen, rekrutierten sich aus einem autonom regulierten Beziehungsgeflecht.
Bis Anfang 2010. Da wurde Gewissheit, was viele längst vermuteten. Die Cols rouges hatten vielfach auf eigene Rechnung gearbeitet, so manches wertvolle Stück verschwand aus dem Lagerlabyrinth und wurde in einem der umliegenden Bistros neu verhandelt. Der Skandal war perfekt, einige wanderten ins Gefängnis – und das savoyardische System hatte ausgedient.
Das System Drouot ist hingegen unschlagbar. Atmosphärisch sowieso. Aber vor allem durch seine logistischen Meisterleistungen: Direkte Anlieferung inmitten der Stadt, Lagerungskapazitäten in diversen unterirdischen Geschossen, eine bewundernswert ausgeklügelte Logistik, die die tägliche Auslastung sämtlicher Säle von der Bestückung über die Vorbesichtigung und die Auktion bis zur Auslieferung nahezu reibungslos gewährleistet.
Über 800 Auktionen im Jahr
In über 800 Auktionen wurde 2019 ein Gesamtumsatz von 351 Millionen erwirtschaftet. Im ersten Halbjahr 2021 wurden 200,5 Millionen Euro mit 393 Auktionen umgesetzt. Rechnet man vorsichtig alle Pariser Versteigerungen zusammen, kommt man – ohne Gewähr – auf 733 Millionen Euro.
Als Drehkreuz und Mikrokosmos der Sammelleidenschaft zieht das Drouot die Kunstsinnigen an. Man kennt sich. Oder lieber nicht. Stemmt sich gegen den Trubel und zieht Stockwerk für Stockwerk, Saal für Saal seine Bahnen. In einigen Sälen wird nachmittags versteigert, in anderen wird noch vorbesichtigt.
Einer der vier Brüder de Bayser, die eine der weltweit renommiertesten Kunsthandlungen für Altmeisterzeichnungen in dritter Generation leiten, lässt zum Beispiel keinen Tag vergehen, an dem er nicht die paar Schritte in die Rue Drouot macht und die Offerte rasch und fachkundig inspiziert. Bewährte Routine.
Moderne Technologie und traditionelle Rituale
Die Commissaires-Priseurs arbeiten mit ausgewiesenen, vor allem – darauf ist man stolz – unabhängigen Experten zusammen. Wichtige Stücke werden gewissenhaft bearbeitet und katalogisiert. Sie werden in der Gazette Drouot vorgestellt, dem wöchentlich erscheinenden Journal, das in diesem Jahr auf einen Erscheinungszeitraum von 130 Jahren zurückblicken kann.
Die großen Überraschungen bergen die vielen Nachlässe, die Auflösungen, die ohne Aufhebens durchgeschleust werden (müssen). Vielleicht steckt auch ein bisschen Methode dahinter. Niedrige Limite und daraus resultierende enorme Preissteigerungen schüren Spürsinn und Entdeckerlust. Allerdings ist das Feld der Interessenten und der Informierten durch die digitalen Errungenschaften enorm gewachsen.
Moderne Technologie und traditionelle Rituale sind nun global vereint. Und alle potenziellen Bieter sitzen um das Lagerfeuer. Da müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn zwischen Schanghai, Johannesburg, New York und Moskau ein sagenhaftes Kunststück übersehen würde. Oder?
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