Dokumentartheater „Happy Nights“: Oh wie schön ist Sexarbeit
Regisseurin Lola Arias will in Bremen Prostitution vom Tabu befreien. Deshalb finden Opfer von Menschenhandel bei ihr auf der Bühne keinen Platz.
Schön ist das. Fast zu schön: Für Lola Arias’ Produktion „Happy Nights“ hat Irene Ip mit offenkundiger Freude an zotigen Details fünf Orte der Sexarbeit als durch Koberer-Fenster einsehbare und einzeln begehbare Räume in das Kleine Haus des Bremer Theaters gebaut: eine Hafenbar, eine Modellwohnung, ein SM-Studio, eine superenge Videokabine in der deftige Pornofilme laufen und ein wohnzimmriges Homeoffice, in dem Tele-Sex produziert wird.
In diesen gut ausgeleuchteten Produktionsstätten der Prostitution berichten fünf Expert*innen aus ihrem Arbeitsleben. Die argentinische Autorin und Regisseurin Arias ist berühmt dafür, die Wirklichkeitsbehauptung des dokumentarischen Theaters mit fiktionalem, darstellerischem Geschehen gewissermaßen zu überblenden.
Und so performen gleichzeitig Akteur*innen der am Theater Bremen-Tanz-Kompagnie „Unusual Symptoms“ beeindruckende Solo- und Duo-Choreografien auf engstem Raum. Teils illustrieren, teils kommentieren diese Bewegungsfolgen das Erzählte: Perfekt ausbalancierte Handstand-Akrobatik auf den Beinschalen eines gynäkologischen Untersuchungsstuhls bringt die seltsame Lust der Sado-Maso-Szene an Schmerz und Erniedrigung auf abstrakte Weise nahe.
Und echt lustig ist es, wenn Klischee-Matrosen virtuos wie Gene Kelly in Revueuniformen tanzen, als wären sie einem Musical-Film der 1940er Jahre entsprungen, während die nostalgieglänzenden Erinnerungen einer Waller Puffmutter an die Wirtschaftswunderjahre in deren Beisein erzählt werden.
Lola Arias: „Happy Nights“, Theater Bremen, Kleines Haus. Wieder am 19.-22. 10. und am 15.12., jeweils zwei Vorstellungen um 18.30 Uhr und 20.30 Uhr.
Solche Zeitzeug*innenberichte hatte in Bremen Frauke Wilhelm ab 2004 für ihr Projekt „Golden City-Bar“ erschlossen – kurz nachdem das neue Prostitutionsgesetz Verträge über sexuelle Dienstleistungen normalisiert hatte, um eine selbstbestimmte Arbeit als Hure oder Callboy zu ermöglichen. Eine neue Sicht auf diese Lokalhistorie gelingt Lola Arias aber nicht: Die milde Ironisierung durch Choreografie und Kostüm ist auch schon das Maximum an Distanz zu ihren Expert*innen, das sie zulässt. Sie sollen rühren, sie sollen erheitern, vielleicht auch mal in ihrer haarigen Nacktheit schocken wie Trans*rechte-Aktivist KAy Garnellen, der dem Publikum sein einladend reinliches Arschloch direkt und per Livevideo gedoppelt präsentiert.
Lola Arias' Ansatz ist strikt affirmativ, sexarbeitpositiv. Als ihre Porte-Parole fungiert dabei River Roux, Berliner Sexarbeiterin und Luftakrobatin, die per Videobotschaft aus einem burgundroten Raum den Mythos verbreiten darf, jede Dienstleistung sei dasselbe, eine Grenze zwischen Care- und Sex-Arbeit existiere nicht und dabei suggeriert, man hätte es mit einer anthropologischen Konstanten zu tun.
Dabei lässt sie aufgeblasene Kondome platzen. Das aufklärerische Potenzial dokumentarischen Theaters wird also dem unbedingten Willen geopfert, einmal mehr das moralische Tabu zu beseitigen, das den Bereich einst beherrscht hatte und sicher noch immer prägt. Schon durchs Casting verdrängt Lola Arias alle Fragen nach Machtverhältnissen, denen er entspringt.
Vor allem aber – überraschend, dass das einer Autorin aus einer Weltregion unterläuft, in der Menschenhandel, Zwangsprostitution und Femizide als Symptome einer epidemischen Misogynie seit Jahren ungebremst ansteigen – vergisst sie ganz, dass auch Gewalt ein Thema sein müsste: Den Opfern, den Toten, den Versklavten verweigert Lola Arias Bühne, Stimme und Gehör.
Stattdessen tritt nur eine Karikatur körperlicher Misshandlung im referierten Rollenspiel zwischen Domina und ihren peinlichen Klienten auf, etwa dem, der sich gerne wie ein Schweinchen von einer gestrengen Schlachterin an die Decke hängen lässt. Na, wenn’s ihm Spaß macht, dem Ferkelchen? Harmlos ist das, völlig unpolitisch und doch einfach richtig schön. Viel zu schön, um wahr zu sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!