Dokumentarfilm über KZ-Besucher: Sprechende Bilder
Nun startet der Dokumentarfilm „Austerlitz“ über KZ-Besucher – ohne jeden Kommentar. Eine Erwiderung auf Tobias Kniebes Kritik am Dokukino.
Woody Allens „Café Society“, Rafi Pitts’ „Soy Nero“ – am 9. November hätte es eine ganze Reihe von Filmen gegeben, denen sich die Filmredaktion der Süddeutschen Zeitung hätte widmen können. Stattdessen durfte deren Filmredakteur Tobias Kniebe die ganze Titelseite des Feuilletons füllen und sich gegen einen vermeintlichen Konsens bei der Bewertung von Dokumentarfilmen in Pose werfen. Kniebes „These“: Aktuelle Dokumentarfilme setzen statt auf klare journalistische Erklärung zu sehr auf ihre Bilder.
Journalistischeres Arbeiten hält Kniebe gesellschaftlich für wichtig, meint aber, einen Konsens zu erkennen, der dieses verhindert. Wie erbittert dieser „Konsens“ ist, lässt sich unschwer daran erkennen, dass Laura Poitras’ recht journalistischer Dokumentarfilm „Citizenfour“ über Edward Snowden vom wirklich schweren Schicksal ereilt wurde, mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet zu werden.
Derlei Details hindern Kniebe nicht daran, freigebig Watschen auszuteilen: stellvertretend an die Filmemacher Gianfranco Rosi, Friedrich Moser und Hubert Sauper. Ein weiterer Schlingel, der sich nicht an die Kniebe’schen Wünsche hält, ist Sergei Loznitsa. Dessen jüngster Film, „Austerlitz“, zeigt in ruhigen Einstellungen, ohne jeden Kommentar, Besucher von ehemaligen Konzentrationslagern.
In streng kadrierten Schwarz-Weiß-Bildern hält Loznitsa anderthalb Stunden lang die Spannung fest zwischen urlaubslustigen Besuchern in bunt gemusterten Shorts und Sommerkleidern und den Orten, die sie besuchen. Mit betroffener Miene schlängeln sich Massen durch die Stätten der Vernichtung, um kurz darauf wieder ins Plaudern zu verfallen und sich ihren Handys zu widmen.
Geschichtspädagogische Wirklichkeit
„Austerlitz“ enthält sich kulturkritischer Unkereien. Loznitsas Film ist vielmehr die Bestandsaufnahme einer geschichtspädagogischen Wirklichkeit. „Austerlitz“ transformiert die Bilder durch die Montage und die Wahl des Titels zu einer geschichtspolitischen Betrachtung. Der Titel bezieht sich auf W. G. Sebalds gleichnamigen Roman von 2001, in dem der Ich-Erzähler eine Reihe von Gesprächen mit dem Kunsthistoriker Jacques Austerlitz führt, die um Architektur, die Geschichte des Kapitalismus im 20. Jahrhundert und jüdische Identität kreisen.
„Austerlitz“ startet kommende Woche in den Kinos und kommt damit zu spät, um den Kniebe’schen Zorn schon im November erregt zu haben.
„Austerlitz“. Regie: Sergei Loznitsa. Deutschland 2016, 96 Minuten. Ab 15. Dezember im Kino
Dieser richtet sich gegen eine Filmästhetik, die – wie „Austerlitz“ – auf das Gezeigte vertraut und nur durch Rahmung und Montage Position bezieht: „Wer als Kino-Dokumentarist heute etwas auf sich hält, wirft seine Zuschauer in der Regel ohne weitere Hilfe in eine fremde Situation hinein, in der diese sich dann selbst zusammenreimen sollen, was eigentlich los ist.“ Aktuelle Dokumentarfilme verzichten Kniebe zufolge auf „Stilmittel der Erklärung, der Nachforschung und faktischen Verifizierung“.
Als Beispiele dienen ihm in seinem Artikel Gianfranco Rosis Lampedusa-Dokumentation „Fuocoammare“, Friedrich Mosers Porträt des NSA-Whistleblowers William Binney in „A Good American“ und Hubert Saupers Dokumentarfilm zum Südsudan, „We Come as Friends“. Ihnen allen wirft Kniebe vor, „sich in der eigenen Selbstbeschränkung längst sehr behaglich eingerichtet“ zu haben. Filme wie diese hätten vergessen, wozu die Methoden des Dokumentarfilms entwickelt wurden, nämlich „um Aufklärung zu schaffen gegen die Macht, gegen die Lüge und das Unrecht“.
Aufnahmen für sich sprechen lassen
Ist das so? 1928 dreht Dsiga Wertow, einer der Gründungsväter des Dokumentarfilms, unter dem Titel „Odinnadzatyj“ (Das elfte Jahr) eine Ode an die Bauarbeiten des Wasserkraftwerks am Dnjepr. Ein Jahr später dreht John Grierson, ein weiterer Gründungsvater des Dokumentarfilms, auf den unter anderem der Begriff „Dokumentarfilm“ zurückgeht, seinen ersten Film. „Drifters“ zeigt den Wandel der Heringsfischerei auf der Nordsee „von einem Idyll brauner Segel und Dorfhäfen [zu …] Dampf und Stahl“.
Beide Stummfilme enthalten kaum Zwischentitel, keiner dieser Titel erklärt das Gesehene. Während des Zweiten Weltkriegs dreht John Huston mit „The Battle of San Pietro“ (über die Befreiung eines italienischen Dorfs durch die US-Armee) und „Let There Be Light“ (über traumatisierte Kriegsrückkehrer) zwei der weithin anerkannt besten Dokumentarfilme zu diesem globalen Konflikt. Hustons Filme lassen die dokumentarischen Aufnahmen für sich selbst sprechen.
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Worauf auch immer Kniebe sich mit seiner These von den vergessenen Methoden des Dokumentarfilms beziehen mag, auf dessen Geschichte jedenfalls nicht. Weder war es je zentrale Aufgabe des Dokumentarfilms, gegen irgendetwas anzugehen, noch unterscheiden sich aktuelle Filme groß von jenen früherer Jahre.
Kniebe findet, in unserer Gegenwart müsse man als Dokumentarfilmer „um Klarheit, Verifizierbarkeit und Verständlichkeit ringen. […] In einer Zeit, in der die Meister der Verklärung täglich neue Siege erringen, kann nur der absolute Wille zur Klarheit noch den nötigen Gegendruck erzeugen, Bewegung in die Köpfe und Herzen bringen.“
Er übersieht dabei willentlich, dass es im Dokumentarfilm stets ein Nebeneinander verschiedener Formen gab. Journalistisch orientierte Dokumentarfilme werden heute oft schon in der Produktion für eine Zweitauswertung im Fernsehen formatiert. Dokumentarfilme, die stärker auf ihre Bilder vertrauen, bleiben hingegen weiter dem Kino vorbehalten. Ihrer Wirkung kommt diese kollektive Rezeption zugute. Wer Zuschauer nach dem Sehen der von Kniebe gescholtenen Filme beim Verlassen des Kinosaals beobachtet, kann sich davon überzeugen.
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