Doku über Prä-Brexit-England: Amsterdam ist eh näher

Der Dokumentarfilm „Seaside Special“ von Jens Meurer erkundet das Vereinigte Königreich kurz vor dem Brexit. Mit Witz hält man gegen Polit-Stress.

Die Zwillingsschwestern Polly and Sophie Duniam stehen vor ihrem Wohnmobil, die eine mit gereckten Mittelfingern.

Die Haltung der exzentrischen Zwillingsschwestern Polly and Sophie Duniam zum Brexit Foto: Farbfilm Verleih

„Hollywood comes to Cromer“, erklärt Impresario Olly Day zwei alteingesessenen Passanten vor den pastellfarbenen Strandhütten des Städtchens die Filmcrew, die ihn gerade in den Blick der Kamera nimmt. Doch es ist nicht Spielberg oder Tarantino, sondern der gestandene deutsche Dokumentarfilmer und Produzent Jens Meurer („Jeckes“, „An Impossible Project“), der an der Küste von North Norfolk dreht.

Dabei steht unter anderem der viktorianische Pier des Badeortes im Fokus, der neben dem Strand eine der größten Attraktionen für den lokalen Tourismus ist. Diese wiederum lockt, abgesehen vom Flanieren auf den hellen Holzplanken zwischen frisch gefangenen Krabben und historischem Stadtmobiliar, mit dem ganz am Ende des Piers im Gebäude des „Pavilion Theatre“ angesiedelten „Cromer Pier Show Special“.

Hier kommt über die Saison in bester englischer Varieté-Tradition ein aus Stand-up-Comedy, Zauberkünsten, steppenden Damenbeinen, Arien, „Wizard of Oz“-Songs und viel viel Abba-Cover-Auftritten zusammengepuzzeltes Programm auf die Bühne – drei Monate sechs Tage in der Woche zwei Shows am Tag vor vollem 500-Plätze-Haus. Es sei die letzte noch existierende derartige End-oftThe-Pier-Show, so der altgediente musikalische Direktor Nigel Hogg.

Der ist nur einer von den vielen Aktiven der Schau, die von Meurer vor die Kamera geholt werden, darunter auch Regisseurin Di Cooke, die ein halbes Jahr an der Vorbereitung plant und feilt. Gestemmt wird die Show gemeinsam von angereisten Profis und gecasteten einheimischen Tänzerinnen und Kindertalenten.

„Seaside Special“. Regie: Jens Meurer. Deutschland/Belgien 2021, 93 Min.

Meurer – dessen Familie zu einem Teil aus Großbritannien kommt und der unter anderem mit Boris Johnson in Oxford studierte – hatte an diesem speziellen Ort und dem sympathisch altmodischen Spektakel schon länger Gefallen gefunden. Und dann in der Saison 2019 durch den unaufhaltsam nahenden Brexit auch einen konkreten zeitlichen Anlass und Rahmen gefunden, Ort und Truppe ein filmisches Denkmal zu setzen. Dass dies zeitlich noch vor dem Corona-Einbruch war, fällt heute auch auf wegen der vielen Küsschen zwischen den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern.

Brexit und Parteienquerelen vermeiden

Während der politischen Wirren dieser Zeit war die Show ein Fluchtpunkt vor der politischen und gesellschaftlichen Zersplitterung in Großbritannien. Doch zugleich ist sie Schauplatz dieser Konflikte, auch wenn Produzent Rory Holburn vor den Proben die Parole ans Team ausgab, sich von Brexit und Parteienquerelen fernzuhalten – außer für einen guten Gag.

In der Erzählung des Films wird die konkrete politische Entwicklung des Jahres 2019 von den wiederholten Abstimmungsniederlagen Theresa Mays bis zu den Neuwahlen im Dezember parallel zu der konzeptuellen Entwicklung, den Vorbereitungen wie auch den Proben der Show geführt.

Dabei ist die Lage in Bevölkerung und Team gespalten wie im ganzen Land. In North Norfolk („Quintessential Great Britishness“ nennt jemand die hier dominante Haltung) haben 2016 zwei Drittel für den Brexit gestimmt, von denen einige im Film zu Wort kommen: Ein elter Fischer etwa, der mit Meurer ins Meer hinausfährt und erklärt, dass das „Great“ vor Britain ja nicht umsonst dort stehe.

Andere fühlen sich gerade hier am östlichen Außenrand des Inselstaats als Europäer, schließlich sei Amsterdam näher als London. Und wenn man den Verlauf des Piers über das Meer verlängern würde, käme man wohl nach ganz viel Nordsee ungefähr bei Oslo an.

Nach Köln auswandern

In der Truppe bekennt sich einer als „Boris-Man“, während ein anderer meint, Gott wolle mit dem Polit-Stress den Sinn der BritInnen für Humor testen. Einer der Schauspieler plant, längerfristig mit seinem deutschen Freund nach Köln („meine Lieblingsstadt“) auszuwandern.

Und zwei junge exzentrische Tänzerinnen wollen mit ihrem Oldtimer-Wohnmobil eine große „Fuck the Brexit“-Europatour machen und vielleicht nach Hamburg übersiedeln. Schade nur, dass der Wagen trotz edler perlweiß-matter Innenausstattung bis jetzt keinen Motor und die beiden Mädels auch keinen Führerschein haben.

Passend zu solch erlesen historischem Stil der analoge 16-mm-Schmelz des Filmmaterials, das die Kameramänner Bernd Fischer und Torsten Lippstock mit nostalgischen Licht- und Farbstimmungen tränken. Eine letzte Liebeserklärung an das scheidende Großbritannien nennt Meurer seinen Film, der mit ironischen Montage-Momenten und der zitatreichen Musik der manchmal herrlich schrägen belgischen Steve-Wil­laert-Brass-Band auch in der Machart mit britischem Humor ausgestattet ist.

Das Personal sprüht sowieso vor Witz. Doch auch in der Truppe geht es am Schluss der Saison ans gegenseitige Abschiednehmen. Noch setzt man auf das Wiedersehen nach der erhofften Buchung zum nächsten Jahr. Heute wissen wir, dass diese nicht kam. Gewidmet ist der Film dem Comedian Paul Eastwood, der starb, als er während der Covid-Pause 2021 von einem Gerüst vor seinem Haus stürzte.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.