Doku über Nirvana: No Future für Hausfrauen
Die Dokumentation "1991 – The Year Punk Broke" zeigt Nirvana kurz vor ihrem Durchbruch. Die Konzertmitschnitte sind wild, roh und sehr direkt.
Die Bilder zeigen den Backstagebereich eines europäischen Festivals: Kurt Cobain wird über den Fußboden geschleift, er lacht sich kaputt. Cobain trägt Arztkittel und abgeschnittene Jeans und ist sichtlich angetörnt von seinem Auftritt und ein paar Joints, die die Runde gemacht haben. In der nächsten Einstellung tuscht ihm Kim Gordon von Sonic Youth die Wimpern.
Drei Wochen sind es da noch, bis "Nevermind" erscheint. Sechs Monate, bis Nirvana Michael Jackson von der Spitze der amerikanischen Charts verdrängt haben werden. Cobain wirkt glücklich und unbeschwert, obwohl er zu jener Zeit schon gelegentlich Heroin probiert. Er ist noch nicht berühmt, und es gibt noch keine Gerüchte, 31 Monate vor seinem Selbstmord.
Gefilmt wurden die Aufnahmen während einer zweiwöchigen Festivaltour von Sonic Youth und Nirvana durch Europa im Sommer 1991. Regisseur Dave Markey, selbst ein Musiker, der in verschiedenen kalifornischen Hardcorebands im Umfeld des Labels SST spielte, wollte ursprünglich eine schlichte Tour-Dokumentation filmen und ahnte nicht, dass er ein Stück Musikgeschichte festhielt.
Bands mit ausgeprägtem Punk-Ethos
Zum 20. Jahrestag von "Nevermind" erscheint "1991 - The Year Punk Broke" nun zum ersten Mal auf DVD. Jahrelang war der Film aufgrund von juristischen Problemen gesperrt. Er zeigt eine Generation von Bands mit ausgeprägtem Punk-Ethos. Dinosaur Jr., Babes In Toyland, natürlich Sonic Youth und Nirvana. Bands, die damals zwischen College-Rock, Punk, Avantgarde und Metal pendelten.
Ihr Sound wurde in den Neunzigern als Alternative Rock von den Major Labels vermarktet. In körnigen, mal dunklen, mal überbelichteten, manchmal verschwommen-psychedelischen Aufnahmen verstrickt Markey die Erlebnisse hinter der Bühne mit den Auftritten der Bands. Die Konzertmitschnitte sind wild, roh und sehr direkt. Die kurze Tour quer durch Mitteleuropa wirkt wie ein überschwänglicher Urlaub für alle Beteiligten. Und mittendrin Nirvana in ihrer spannendsten Phase, auch wenn sie im Film nur Nebendarsteller sind.
"Als wir die Aufnahmen machten, wirkte Kurt eher schüchtern und zurückhaltend auf mich", erzählt Markey, der alles mit einer einzigen Super-8-Kamera filmte. "Heute wünschte ich natürlich, ich hätte mehr Material von ihm gemacht." Nirvana kamen ihm damals wie eine Band vor, die ihren Platz noch nicht gefunden hatte. "Sonic Youth waren auf der Tour quasi wie Eltern für sie", sagt Markey.
Steigende Intensität
Einmal erschienen Nirvana viel zu spät zu einem Auftritt, doch Thurston Moore von Sonic Youth bat alle anderen Bands, ein paar Minuten ihrer Spielzeit abzugeben, damit Nirvana doch noch auftreten konnten. Und das taten sie dann auch - mit einer von Konzert zu Konzert steigenden Intensität. Im britischen Reading spielten Nirvana dann zum ersten Mal vor mehreren zehntausend Menschen.
Cobain sprang nach dem letzten Song, der Noise-Collage "Endless, Nameless", mitten ins Schlagzeug von Dave Grohl - unter dem Jubel der Zuschauer. "Dabei kannte ihn damals noch niemand, das war schon beeindruckend", erinnert sich Markey. Nirvana hauen auf dieser Tour regelmäßig ihr Equipment zu Klump, sie gehen an ihre körperlichen Grenzen.
Auf der Version von "Smells Like Teen Spirit", die auf der DVD enthalten ist, kann Cobain den Song gar nicht mehr singen, dermaßen ruiniert klingt seine Stimme. Doch dann schreit er trotzdem, so laut und heftig, dass jedes bisschen Wut und Verzweiflung spürbar werden.
Glaubwürdiger als heutzutage
Es sind nicht nur die Livemitschnitte, die "The Year Punk Broke" sehenswert machen. Die Dokumentation katapultiert die Zuschauer zurück in eine Zeit, in der Rock glaubwürdiger als heutzutage wirkt. Die zwei Wochen Tourneealltag sind voller Anarchie, Vandalismus und Verachtung für sämtliche Konventionen. Man kann einer Generation, die wegen ihrer Perspektivlosigkeit mit dem Buchstaben "X" versehen wurde, beim Vegetieren zusehen. Punk als Lebensgefühl und sein Leitmotiv "No Future" sind allgegenwärtig. Und genauso verhalten sich die Bands auch.
Auf Kurt Cobains Gitarre klebt ein Aufkleber: "Vandalism - Beautiful as a Rock in a Cops Face". "Nirvana waren die letzte reale Rockband", sagt Dave Markey. Niemand verkörperte je wieder das Rebellische der Jugend so gut wie sie. Und niemals hatte eine Band, die mit Black Flag und den Stooges sozialisiert wurde, ähnlich großen Erfolg.
Der Filmtitel "1991 - The Year Punk Broke" war übrigens als Witz gemeint, weil die Glam-Metal-Band Mötley Crüe im gleichen Jahr eine frevelhafte Sex-Pistols-Coverversion veröffentlicht hatte. Da war aber noch nicht klar, dass Nirvana bald die erfolgreichste Band des Planeten sein würden. Und auf einmal auch Hausfrauen auf Punk standen.
"1991 - The Year Punk Broke" (Universal Music)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
Demokratie unter Beschuss
Dialektik des Widerstandes