Doku über Kinder in Ersatzfamilien: Zarte Erkundung auf explosivem Terrain
In seiner preisgekrönten Doku beobachtet Daniel Abma, wie Kinder in Ersatzfamilien trotz aller Widrigkeiten Zuwendung und viel Glück erfahren können.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in Heimen oder bei Pflegefamilien aufwachsen, steigt in Deutschland. Rund 200.000 lebten laut einer offiziellen Statistik im Jahr 2023 länger als nur vorübergehend in Betreuungseinrichtungen. Meist erfährt die Öffentlichkeit nur dann von den Lebensbedingungen dieser Kinder, wenn es Gewalt oder Missbrauch, ein Versagen der Jugendämter, zu wenig finanzielle Mittel und den Mangel an guten pädagogischen Fachkräften zu berichten gibt. In seinem Dokumentarfilm „Im Prinzip Familie“ interessiert den in Berlin lebenden niederländischen Regisseur Daniel Abma die unbekannte andere Seite von dem Leben dieser Kinder.
Abma, ehemals Grundschullehrer in den Niederlanden, Medienpädagoge in Berlin und Absolvent der Filmhochschule in Babelsberg, liebt Dokumentarfilme: die Menschen über einen längeren Zeitraum begleiten und ein großes Maß Vertrautheit voraussetzen, um über die sozialen Bedingungen ihres Alltags zu erzählen. Unter seinen in Brandenburg entstandenen Filmen handeln zum Beispiel „Nach Wriezen“ (2012) und „Vorwärtsgang“ (2014) von entlassenen Strafgefangenen auf dem Weg in eine neue Existenz, „Feuerwehrfrauen“ (2018) von zwei taffen Frauen in der Männerdomäne der freiwilligen Feuerwehr ihres Dorfes und „Arbeitswege“ (2012) von vier jungen Leuten in einem Brandenburger Jobvorbereitungsprojekt.
Motiv für seinen aktuellen, beim vorjährigen Leipziger Dokumentarfilmfestival mehrfach ausgezeichneten Film „Im Prinzip Familie“ war die Frage, wie es trotz der Zunahme von dysfunktionalen Familien, Sorgerechtsauseinandersetzungen und elterlicher Überforderung gelingen kann, Kinder in „Ersatzfamilien“ zu selbstbewussten, entscheidungsfähigen und resilienten Jugendlichen zu erziehen. Wie sieht ein Modell des Zusammenlebens mit anderen Kindern und Betreuungspersonen aus, das trotz aller Widrigkeiten Stabilität und Struktur im Alltag, viel Zuwendung und eine dicke Portion Kinderglück möglich macht?
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„Im Prinzip Familie“. Regie: Daniel Abma. Deutschland 2024, 91 Min.
Irgendwo in Brandenburg
Irgendwo in Brandenburg (Ortsnamen, erkennbare Gebäude, Autonummern und nichtbeteiligte Personen bleiben diskret ausgespart) fand er das „Haus am See“, in dem fünf Jungen zwischen sieben und zwölf Jahren mit dem Erzieherteam Herrn und Frau Wagner und dem Afghanistan-Veteranen und ausgebildeten Scharfschützen Herrn Gerecke zusammenleben. Nach langer Vorbereitung begannen um 2023 die Dreharbeiten zum Alltag der Kinder mit ihren Fahrten im hauseigenen Schulbus, den gemeinsamen Essen, ihren Spielen, vor allem aber ihren Gesprächen mit den drei vertrauten Ersatzeltern und den zuständigen Frauen des Jugendamtes respektive Familiengerichts.
Im Wechsel der Jahreszeiten zeichnet Daniel Abma ein Bild der unspektakulären Naturschönheiten rund um das abgeschiedene Haus am See. Er gibt dem Rhythmus seines Films damit einen entspannten Atem, unterstrichen noch durch eine – manchmal überreichlich harmonische – Streichermusik. Was in der Konzentration auf die Beziehung zwischen den Erwachsenen außen vor bleibt, sind Episoden, in denen die Kinder direkt mit Schulkindern und deren Eltern, Lehrkräften und dem Dorf- oder Stadtumfeld in Kontakt sind. Abgeschirmt in ihrem Kosmos, spiegeln sich die inneren Konflikte umso dringlicher gegenüber den Erziehern.
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Im Mittelpunkt des Films stehen Niklas und Kelvin, beide sehnsüchtig auf mehr Kontakt, wenn nicht die Rückkehr zu ihren Müttern wartend. Kelvin, der Jüngere, „weiß nicht, wer er ist, woher er kommt und wo er hingehört“, wie es die „Ersatzmutter“ Antje Wagner auf den Punkt bringt. Auf der Flucht aus Kamerun auf dem Mittelmeer geboren, hat er in acht Jahren seines Kinderlebens in Deutschland die französische Muttersprache verlernt. Die Mutter hat mit inzwischen drei Geschwistern von Kelvin und ihrer Arbeit keine Zeit für den schnell aufbrausenden schwierigen Jungen, der in der Schule aneckt und provoziert, als schwarzes Kind stigmatisiert wird und wegen der eskalierenden Konflikte auch die empathischen Ersatzeltern überfordert. Bietet seine zeitweilige Aufnahme in eine kinderpsychiatrische Klinik die richtige Auszeit und Neuorientierung für das Kind?
Bürokratische und rechtliche Hürden im Sorgerechtsprozess
Diese von Kelvin in intensiven Gesprächen selbst mitgetragene Entscheidung und ihr Ergebnis für alle Beteiligten, auch für seine Mutter, stellt den einen narrativen Schwerpunkt der Geschichte dar. Niklas’ Wunsch, zu seiner überforderten, kaum zu Terminabsprachen fähigen Mutter zurückzukehren, der andere. In Niklas’ Fall zeigt „Im Prinzip Familie“, wie komplex die bürokratischen und rechtlichen Hürden im Sorgerechtsprozess sind. Der sensible Junge wird von dem Erzieherteam gestärkt, seinen Wunsch deutlich vorzutragen, muss nach einem langen Jahr voller Termine mit den Jugendamtsdamen und der Familienrichterin jedoch eine zwischen den getrennten Eltern vermittelnde Lösung akzeptieren.
Niklas’ Jugendweihe ist einer der absurden Höhepunkte von Daniel Abmas Erkundung auf dem explosiven Terrain der Familienkonflikte. Ein nicht im Bild erscheinender Redner lobt die Eltern der feiernden Jugendlichen für ihre selbstlose, grandiose Erziehungsleistung. Die mit Niklas angereiste Ersatzfamilie tauscht sanft ironische Blicke, die leiblichen Eltern stellen sich immerhin zu Familienfotos mit dem überglücklichen Jungen auf.
„Im Prinzip Familie“ ist einer jener Filme, die ohne Kommentar allein aus der beobachteten Nähe zwischen verantwortlichen Erwachsenen und Kindern zwei berührende Coming-of-Age-Geschichten sichtbar machen. Da sind die Kinder, die die Kamera beobachtet und begleitet, und da sind ihre Vertrauten im Haus am See, die ihre Aufgabe kommentieren. Dass sie trotz aller Professionalität Trennungsschmerz spüren, wenn ein Kind in sein anderes Leben wechselt, gehört dazu.
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