Dissident über Kubas Regierung: „Eine Maschinerie der Repression“
Vor drei Jahren wurden in Kuba Antiregierungsproteste niedergeschlagen. Der Dissident Manuel Cuesta Morúa kämpft weiter für Wandel.
taz: Herr Cuesta Morúa, Sie gehören zu den bekannten Dissidenten in Kuba und haben auch nach der Niederschlagung der Proteste vom 11. Juli 2021 weitergemacht. Wofür treten Sie ein?
Manuel Cuesta Morúa: Wir treten für die Schaffung von Freiräumen von unten ein, für die Demokratisierung Kubas aus einer Perspektive der Menschenrechte und des Rechtsstaats und einer sozialdemokratischen Vision. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Dinge nur in Kuba und nicht von außerhalb ändern lassen. Deshalb lebe ich hier und engagiere mich in Havanna und spiele nicht mit dem Gedanken, wie so viele andere ins Ausland zu gehen.
Cuesta Morúa, Jahrgang 1962, ist Historiker. Er ist Gründer und Koordinator des Arco Progresista, einer sozialdemokratisch orientierten Partei in Kuba, und lebt in Havanna.
Woher nehmen Sie Ihren Optimismus nach der Kriminalisierung des Protests im Anschluss an den 11. Juli 2021 und der Unterbindung des Marsches für den politischen Wandel in Kuba am 15. November 2021?
Die Regierung agiert totalitär, sie kontrolliert das öffentliche Leben und agiert aus einer patrimonialen Perspektive – als hätte sie dieses Land von ihren Vorgängern geerbt. Das fördert nicht gerade die Bereitschaft zum Zuhören und zur Auseinandersetzung mit der Bevölkerung. Die Regierung hat eine überaus mächtige und omnipräsente Maschinerie der Repression aufgebaut. Es gibt aus meiner Perspektive derzeit einen schwachen Arm, der die Nation ernährt, und einen muskulösen Arm, der sie unterdrückt. Das sorgt für enorme Widersprüche. Deshalb bleiben die Proteste nicht aus, wie in Santiago de Cuba, wo am 17. März Hunderte auf die Straße gingen, um friedlich gegen Stromabschaltungen und Mangelversorgung zu protestieren – meist Jugendliche, die erst nach dem Beginn dieses Jahrtausends geboren wurden und kaum etwas anderes kennen als die permanente ökonomische Krise.
Die Zahl dieser Proteste nimmt zu, aber sie scheinen wenig Erfolg zu haben. Was ist Ihre Strategie?
Wir verfolgen die Vision des demokratischen Wandels innerhalb der bestehenden legalen Strukturen. Wir versuchen, die Freiräume und Optionen zu nutzen, die die Verfassung Kubas von 2019 bietet. Die Verfassung wurde verabschiedet, um Kuba nach außen als demokratisches Land zu präsentieren, obwohl es nach wie vor totalitäre Strukturen hat. Die Verfassung bietet Optionen, die wir versuchen einzuklagen. Das sind langwierige Prozesse, denn oftmals gibt es keine Vorgaben für die Umsetzung von Dingen wie dem Recht auf Demonstration oder eines Referendums.
Warum glauben Sie, dass das funktionieren könnte?
Die Gesellschaft demokratisiert sich, trotz der repressiven Strukturen. Heute sind die Kubaner:innen besser informiert, besser vorbereitet für einen demokratischen Wandel, sie kritisieren, protestieren anders als früher. Das ist ein Fortschritt. Kuba ist zwar eine Insel, aber durchaus vernetzt. Jede und jeder hat heute ein Mobiltelefon. Früher gab es immer wieder Leute, die uns sagten, wir teilen deine Ansichten, aber ich scheue die Konsequenzen, wenn ich mich zu euch bekenne. Das ändert sich. Die Leute sind müde, frustriert, aber für viele ist klar, dass sich etwas ändern muss. Aber wir haben weiterhin eine schwache und systematisch geschwächte Zivilgesellschaft, die wenig weiß über bestehende Gesetze und Optionen, die die Verfassung bietet. Das versuchen wir zu ändern.
Aber erkennt die Regierung Kubas die eigene Verfassung an? Als am 15. November 2021 die Aktivist:innen der Facebook-Gruppe Archipiélago zum friedlichen Marsch für den politischen Wandel auf der Insel aufriefen und versuchten, diesen Marsch offiziell anzumelden, war das unmöglich.
Das stimmt. Bei vielen Kubaner:innen ist nicht angekommen, dass die Verfassung ihnen das Demonstrationsrecht zubilligt. Der Artikel 56 ist eindeutig: „Das Recht auf Versammlung, auf Demonstration und Vereinigung mit legalen und pazifistischen Zielen erkennt der Staat an“, heißt es da. Darauf berufen wir uns, genauso wie auf die Erfahrung des Proyecto Varela, das zur Jahrtausendwende dreimal mehr als die 10.000 Stimmen für ein Referendum über die politische Zukunft der Insel sammelte. Damals wurde das politische Projekt mit dem Argument ausgebremst, dass die Unterschriften der Menschen notariell beglaubigt sein müssten. An diesem Punkt setzen wir an, sammeln ebenfalls Stimmen für den politischen Wandel – und lassen die beglaubigen.
Aber wer gibt Ihnen die Sicherheit, dass die Regierung von Miguel Díaz-Canel das auch respektieren wird?
Gute Frage, wir berufen uns auf die Verfassung des Landes und haben das Recht auf unserer Seite. Und wenn 100.000 vom Wahlrat akzeptierte Unterschriften vorliegen, dann kann die Regierung das nicht mehr einfach ignorieren und die Menschen auch nicht kriminalisieren.
Zumindest in der Theorie …
Genau, die Kriminalisierung von friedlichen Demonstrant:innen wie in Santiago im Anschluss an die Proteste vom 17. März hat zumindest rechtlich keine Basis. Da wurden 17 Menschen im Anschluss festgenommen und müssen sich nun auf einen Prozess einstellen. Das entbehrt jeder rechtlichen Basis, denn allen Berichten zufolge ist es nicht zu Gewalt gekommen. Es wurden keine Scheiben eingeworfen, keine staatlichen Läden geplündert.
Derartige friedliche Proteste sind das eine, das andere ist die Auswanderung Tausender oft junger Menschen, die keine Hoffnung mehr auf einen Wandel des politischen und ökonomischen Systems haben. Auswanderung ist das bestimmende Thema in den Straßen Havannas, die Insel verliert ihre Zukunft und die Regierung reagiert darauf nicht einmal – wie ist das zu erklären?
Die Regierung und der staatliche Sektor verhalten sich wie eingefroren. Sie fürchten den Moment, in dem sich große Bevölkerungsgruppen – 100.000, eine Million oder mehr – offen für den Wandel aussprechen. Sie wissen aber auch sehr genau, dass der Alltag die Leute auffrisst. Alle sind so mit dem Besorgen des Lebensnotwendigen beschäftigt, dass für konkrete Aktionen, für politische Arbeit kaum Zeit bleibt. Zudem dämpft das repressive Vorgehen der letzten Jahre die Hoffnung, eigene Rechte einzufordern.
Viele Menschen, vor allem jüngere, protestieren nicht mehr, sondern wandern aus.
Ja, es sind die Rentner der Revolution, die ganz unten in der Sozialpyramide angekommen sind, die in meiner Nachbarschaft auf den Bauernmärkten auf den Verkaufsschluss warten, um Lebensmittel günstiger zu kaufen oder umsonst zu bekommen. Allerdings hat auch die Kriminalität zugenommen, das Auftauchen von Jugendbanden ist in Havanna und Santiago de Cuba ein neues Phänomen, dass es früher nicht gegeben hat. Kuba war früher Synonym für tragfähige soziale Strukturen. Doch sie erodieren immer weiter – wir sinken auf das lateinamerikanische Niveau herab.
Wie regiert die Regierung, wie Präsident Miguel Díaz-Canel, der 2018 als Mann des Dialogs gehandelt wurde?
Diese Hoffnungen haben sich zerschlagen. Heute ist klar, dass Miguel Díaz-Canel als Mann Raúl Castros an die Macht gekommen ist – er hat weder die Macht noch die Unterstützung von oben, einen Dialog zu initiieren. Heute ist er dafür auch nicht mehr der richtige Mann.
Weil er nicht mehr glaubwürdig ist?
Genau, seine Reden erinnern an die 1980er Jahre. Die Leute winken ab, vor allem die Jugend. Sie können nicht mehr hören, wer für die Probleme in Kuba angeblich verantwortlich ist und Miguel Díaz-Canel wird als Vertreter eines repressiven Flügels wahrgenommen.
Stehen Sie auch unter Beobachtung, dürfen Sie ausreisen oder nicht?
Ja, ich stehe unter Beobachtung und bin regulado, darf nicht ausreisen. Mein Name steht auf einer Liste von Menschen, denen das Recht auszureisen vorenthalten wird.
Trauen Sie sich eine Prognose für die kommenden Jahre zu?
Ich gehe davon aus, dass in den nächsten zwei, drei Jahren strukturelle Reformen kommen werden. Allerdings nicht mit dieser Regierung, die ausgelaugt wirkt, ihre Glaubwürdigkeit verloren hat, wofür auch die Absetzung des Finanzministers wegen Korruption vor einigen Wochen steht, aber mit einer Folgeregierung. Ich halte es für wahrscheinlich, dass der derzeitige Staatschef Miguel Díaz-Canel spätestens auf dem nächsten Parteikongress abgelöst wird.
Kann man so lange warten angesichts der Auswanderung von 600.000 Kubaner:innen allein in die USA zwischen dem November 2021 und dem Januar 2024?
Die aktuelle Krise ist für viele gravierender als die zu Beginn der 1990er Jahre, als sich das sozialistische Lager auflöste. Aber der Druck scheint nicht auszureichen, um die Herrschenden zum Agieren zu zwingen. Zumindest habe ich den Eindruck.
Aber angesichts dieser Auswanderungszahlen verspielt die politische Führung doch auch die eigene Zukunft?
Ja, aber sie verfolgt eine Perspektive des Machterhalts. Sie denkt nicht an die gesellschaftliche Zukunft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“