Diskussion um Nahostkonflikt in Tunesien: Zusammen für Gaza
Obwohl Tunesien eine größere jüdische Minderheit hat, ist der Begriff „Israel“ tabu. Die Solidarität gilt den Palästinenser*innen.
TUNIS taz | Auch am Mittwoch sind in Tunesien wieder mehrere hundert Menschen auf die Straße gegangen, um ihre Solidarität mit den Palästinenser*innen zu bekunden. Bereits in den vergangenen Tagen waren Tausende zur palästinensischen Botschaft und vor das tunesische Parlament in Tunis marschiert. Auf Plakaten wurde das Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft und ein Ende der Besatzung Palästinas durch das „zionistische Gebilde“ gefordert.
Der Begriff Israel ist in Tunesien ein Tabu und wird weder von Bürgerrechtler*innen oder Medien noch von Präsident Kais Saied benutzt. Vertreter der Zivilgesellschaft und verschiedener politischer Parteien riefen die Parlamentarier*innen in Sprechchören sogar auf, jegliche Beziehung mit Israel unter Strafe zu stellen.
Wie sehr die aktuelle Eskalation zwischen Israel und der Hamas das von einer schweren politischen und wirtschaftlichen Krise gebeutelte Tunesien eint, hatte sich schon am Samstag in Tunis gezeigt: Unter einer rund hundert Meter langen palästinensischen Flagge protestierten Familien, progressive Aktivist*innen und mit ihnen verfeindete religiöse Konservative gemeinsam in der Innenstadt. Der für eine Woche verhängte Lockdown war am Vortrag tagsüber aufgehoben worden.
„Das Schicksal der Palästinenser*innen ist wohl das einzige Thema, bei dem Tunesier*innen aus allen Gesellschaftsschichten einer Meinung sind“, sagt Mohamed Hamed aus Tunis, ein junger Aktivist der linken Szene. „Wieso interveniert die Staatengemeinschaft nicht, um Palästina zu retten“, fragt der 34-Jährige, der ansonsten als DJ in einem Nachtclub arbeitet.
Innenpolitischer Nutzen
Tunesien hat derzeit einen Sitz im UN-Sicherheitsrat inne, aber der tunesische Vorschlag, die „Aktivität der Siedler*innen, die Zerstörung der Häuser in Ostjerusalem und die Vertreibung der Bewohner*innen durch die israelische Regierung“ zu verurteilen, wurde von der Vetomacht USA am Sonntag abgelehnt.
Die jüdischen Gemeinden in Tunis und auf Djerba gelten als die aktivsten in der arabischen Welt
Die unter Druck stehende politische Elite Tunesiens will die seltene Eintracht auf den Straßen nun innenpolitisch für sich nutzen. In den nach dem Ramadan und dem Lockdown seit Montag wieder geöffneten Schulen ist Palästina jetzt eine Woche lang Schwerpunktthema. Der Generalsekretär der Gewerkschaft UGTT, Noureddine Taboubi, forderte bei einem Besuch einer Schule in der Kleinstadt Hammam Chott auch von den Schüler*innen lauten Beifall, als er eine deutliche Reaktion der tunesischen Regierung auf die zionistische Aggression forderte.
Seit der Bombardierung des Hauptquartiers der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) durch die israelische Luftwaffe im Jahr 1985 hat sich Palästina tief in die Erinnerungskultur eingefressen. Acht in Israel gestartete Kampfflugzeuge warfen damals Bomben über dem von Jassir Arafat zeitweise nach Tunis verlegten Büro der damals einflussreichsten palästinensischen Bewegung ab.
In vielen Medien wird der aktuelle Raketenbeschuss Israels durch die Hamas nun als Selbstverteidigung dargestellt. In Debatten in sozialen Netzwerken wird zwischen Israelis, Juden und Jüdinnen und Zionist*innen oft nicht unterschieden, obwohl bis zu 150.000 jüdische Tunesier*innen im Land leben. Die Mehrheit der jüdischen Tunesier*innen wanderte unter massiven Anfeindungen nach dem Sechstagekrieg 1967 nach Israel aus. Die verbliebenen Gemeinden in Tunis und auf Djerba gelten als die aktivsten in der arabischen Welt.
Übergriffe hat es seit Beginn der aktuellen Eskalation in Nahost nicht gegeben; jüdische Schulen und Synagogen werden aber seit Jahren von einer massiven Polizeipräsenz geschützt.