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Diskussion um Judith ButlerDer Griff der Normen

Wieder gibt es den Vorwurf an die Philosophin Butler, Theorie und Aktivismus seien bei ihr untrennbar. Dabei sollte man ganz andere Fragen stellen.

Judith Butler gilt als eine der einflussreichsten Denker*innen der Gegenwart Foto: Claudio Santisteban/ ZUMA

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde die US-amerikanischen Philosophin Judith Butler kürzlich als eine Theoretikerin bezeichnet, „die Unterwerfung lehrt“. Statt als Intellektuelle, die mit ihrer Gendertheorie und ihrem politischen Aktivismus für Menschenrechte und Befreiung eintritt, müsse Butler mittlerweile längst als zynische Kommentatorin des politischen Geschehens gesehen werden, die „die willenlose Unterordnung unter ein namenloses Kollektiv“ predige.

Mit dieser Behauptung wird einmal mehr die in den Zirkeln der sogenannten Antideutschen ventilierte These vertreten, Theorie und Aktivismus Butlers seien nicht voneinander zu trennen und beide letztlich antiaufklärerisch.

Politischer Hintergrund dieser Einschätzung sind die wiederholten Äußerungen Butlers gegenüber der Politik des Staates Israel und ihre Sympathien für die antiisraelische bis antisemtische Boykottkampagne BDS (Boycot, Divestment, Sanctions). Für Antideutsche ist das ein rotes Tuch und Grund genug, sich gegen Butler und den mit ihrem Namen verknüpften linken Poststrukturalismus in Stellung zu bringen.

Der Autor des FAZ-Artikels, der Historiker Marco Ebert, hatte auch in dem viel diskutierten Band Beißreflexe“ (2017) publiziert. In dem Buch, das sich der „Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten und Sprechverboten“ – so der Untertitel – gewidmet hatte, war bereits mehrfach gegen Butler Stellung bezogen worden. Das theoretische Augenmerk auf kulturelle Differenzen selbst geriet darin in Verdacht, bloß regressive Affekte zu fördern: irrationale Abgrenzungen, starre Gruppenzugehörigkeiten.

Frage nach der Handlungsfähigkeit

Gegen die Rede von der Kultur, so Eberts eigene These in dem Buch, helfe nur Klassenanalyse. Klasse macht Ebert irrigerweise als „den sozialistischen Gegenbegriff zu Kultur“ aus und ignoriert dabei die jahrzehntelangen – theoretischen wie aktivistischen – Debatten um Arbeiterkultur ebenso wie die Bedeutungsvielfalt des Begriffes selbst: Kultur bezeichnet schließlich nicht nur Gruppen, gegen deren vermeintlichen Partikularismus dann ein abstrakter Universalismus aufgefahren werden kann. Sondern Kultur meint auch Denk- und Wahrnehmungsweisen ganz allgemein und betrifft damit Ebenen der Sozioanalyse, mit denen sich Linke nicht ohne Grund seit Karl Marx beschäftigen.

Warum darüber hinaus und abgesehen davon die These absurd ist, dass Butler eine Theoretikerin der Unterwerfung sei, kann die Lektüre ihres neuen Buches aufzeigen – wie im Übrigen auch die jedes ihrer früheren Bücher. In „Wenn die Geste zum Ereignis wird“ (2019) stellt Butler die Frage nach individueller und kollektiver Handlungsmacht neu.

Die Frage nach der Handlungsfähigkeit, von Ebert bloß als schwacher Ersatz für aufklärerische Begriffe wie Individuum oder Selbstbestimmung interpretiert, stellt sich laut Butler deshalb, weil sie davon ausgeht, dass Sprache „gegen unseren Willen, ja vor unserem Willen und vor unserem eigenen Sprechen auf uns ein[wirke]“.

Nicht aus gegenaufklärerischen Motiven verwirft Butler die Rede von Subjekt und Individuum, sondern weil sie die mit ihnen verbundenen, starken Annahmen von Autonomie infrage stellt. Eine Infragestellung, die sich im Übrigen ohne Weiteres als sprachtheoretische Übersetzung jener Marx’schen Feststellung lesen ließe, dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, „aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“.

Was passiert mit dem Handeln?

Gesellschaftliche Normen und Konventionen prägen uns, bevor wir es überhaupt merken. Dennoch sind unsere Handlungen laut Butler (und Marx) nicht vorherbestimmt. Gerade weil die Konvention als solche immer wieder bestätigt werden muss, gibt es auch Möglichkeiten, diese Bestätigungen zu verweigern, zu ignorieren, zu unterlaufen.

Darin sieht Butler trotz der Analyse, dass Normen gewalttätige Zuschreibungen sind, die prinzipielle Handlungsfähigkeit aufscheinen. Butler ging und geht es darum, wie sie im neuen Buch zusammenfasst, mit ihrer Theorie der Genderperformativität „den zwingenden Griff der Normen auf das vergeschlechtlichte Leben zu lockern“.

Darüber hinaus stellt sie in dem kleinen Büchlein aber noch eine andere Frage. Sie geht in die entgegengesetzte Richtung: Wenn die Normen schwächer werden, wenn die Autoritäten nicht mehr gültig erscheinen, die die Praxis absichern, was passiert dann mit dem Handeln?

Erörterung von Solidarität

Das ist eine sehr politische Frage. Denn es geht darum zu erörtern, ob etwa Solidarität staatliche Unterstützung, also Gesetze braucht oder gerade aus prekarisierten Verhältnissen heraus entstehen kann. Hier sieht Butler eine Tendenz: In den Mobilisierungen der letzten Jahre gegen „soziale und ökonomische Ungleichheit“ sieht sie hoffnungsvolle Momente dafür, dass es für solidarische Praktiken eben keiner starken, absichernden Struktur bedarf.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Sie knüpft mit diesen Überlegungen an ihr letztes Buch, die „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“ (2016) an. Darin hatte sie versucht, am Beispiel von nicht autorisierten Versammlungen, die nicht einmal als Protest formiert sein müssen, den Begriff des „politischen Raumes“ zu erweitern.

Eine der Thesen dabei lautete: Die versammelten Körper sagen nicht immer das, was man ihnen unmittelbar ansieht oder was auf ihren Schildern steht. Butler greift diese Einsicht nun wieder auf und versucht – unter Bezugnahme auf Bertolt Brecht und Walter Benjamin – sie im Vokabular der Performance- und Theatertheorie neu zu fassen. Der Name für den verkörperten Ausdruck, hinter dem keine Intention, keine Demoparole steht, lautet Geste.

Die Geste wird damit zu einer Möglichkeit, sich vom vermeintlich natürlichen Ausdrucksrepertoire zu lösen. Sie ermöglicht Distanz und damit Kritik. Nicht zuletzt an diesem Punkt wird deutlich, dass es hier um alles andere als die „radikale Ablehnung liberaler und linker Freiheitsvorstellungen“ (Ebert) geht. Es handelt sich um ein Projekt für deren Erweiterung.

Was zu fragen wäre

Fraglich an Butlers Position ist nicht deren Einbettung in einen linken, emanzipatorischen Kontext. Zu fragen wäre vielmehr, wann und unter welchen Bedingungen die doch sehr individuelle Geste zu einer kollektiven Kraft werden kann? Macht mein Körper allein gute Miene zum bösen Spiel, beginnt schließlich noch lange keine Revolution. Zu fragen wäre außerdem, ob die Geste, wenn sie zur Unterbrechung des scheinbar natürlichen Laufs der Dinge und damit zum Ereignis wird, überhaupt gezielt eingesetzt werden kann. Wie können wir auf sie vertrauen?

Auch wenn Butler diese Fragen nicht ausreichend klärt, arbeitet sie zweifelsohne an der Veränderung der gesellschaftlichen Denk- und Wahrnehmungsweisen zum Guten hin. Verfechterinnen und Verfechter einer „unveränderlichen Ohnmacht“, als die Ebert und andere Butler gerne sehen würden, tun diese Arbeit nicht.

Und schließlich: Butlers einmal in einem Interview geäußerte Einschätzung, Hamas und Hisbollah seien progressiv und Teil der globalen Linken, kann und sollte als krasse Fehleinschätzung von deren autoritären Strukturen, deren religiöser Ideologie und von deren Antisemitismus kritisiert werden. Mit ihrer Theorie hat diese Fehldiagnose allerdings wenig zu tun.

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12 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Welche Studiengänge muss ich abgeschlossen haben um diesen Text lesen zu können?

    Das ist kein Sarkasmus, ich will es wirklich wissen.

    • @Robert Schadl:

      Entschuldigen Sie, das ist Philosophie, und Ethik.



      Die ersten drei Absätze setzen leider etwas die Kenntnis der Debatte voraus.

    • @Robert Schadl:

      Ich habe vor 30 Jahren ein Studium der Philosophie abgeschlossen und mir fällt es leicht, diesen gedanklich eher schlichten Text zu lesen. Beantwortet das Ihre Frage ausreichend?

  • Was ist Norm?



    Warum sollte sie befolgt werden?



    Wie konnte gegen die Norm eine Arbeiterbewegung entstehen?

    Sprache ist ein Konstrukt mit viel weniver Kraft als ihr derzeit zugeschrieben wird. Alles ist denkbar und sagbar. Dies ist aber auch für alle unbequem. Denn "doubt everything" stellt jegliches in Frage. Und nur das ist Freiheit und der offene Diskurs ermöglicht die progressive Gestaltung.

  • "Fraglich an Butlers Position ist nicht deren Einbettung in einen linken, emanzipatorischen Kontext."

    Doch genau das ist zu hinterfragen.

    Lösen wir uns mal von der Ebene Israel/Palästina und schauen uns einen ganz praktischen Fall an.

    Avital Ronell, Professorin für Deutsch und Komparatistik, spezialisiert auf feministische und queere Themen an der NYU, wurde von einem Doktoranden in einem Title IX Verfahren der sexuellen Nötigung bezichtigt, inzwischen ist sie für das akademische Jahr 2018/2019 suspendiert.

    Kurz nach der Anzeige, schrieben ca. 50 Personen, erste Unterzeichnerin Judith Butler, einen "Unterstützungsbrief" für Professor Ronell an die Provost Katharine Fleming und den Präsidenten Andrew Hamilton der NYU.

    (Wer den mal lesen will leiterreports.type...ary-theorist.html)

    Da wird nicht nur fröhliches victim blaming betrieben, "we hold that the allegations against her do not constitute actual evidence, but rather support the view that malicious intention has animated and sustained this legal nightmare



    (Wir sind der Ansicht, dass die Anschuldigungen gegen sie keine tatsächlichen Beweise darstellen, sondern die Ansicht unterstützen, dass böswillige Absicht diesen legalen Albtraum belebt und aufrechterhalten hat)," sondern auch gefordert, das für die Untersuchung Professor Ronells akademischer Rang, scharfen Witz und ihrer intellektuellen Hingabe einfließen muss, "we testify to the grace, the keen wit, and the intellectual commitment of Professor Ronell and ask that she be accorded the dignity rightly deserved by someone of her international standing and reputation," also Freispruch gefordert.

    Es wird also genau das gemacht, was seit Jahrzehnten schief läuft, die Reihen schließen, in laufende Verfahren eingreifen, das Opfer beschuldigen und "Respekt" einfordern.

    Wer solche Briefe als Erste unterschreibt, hat nicht nur einmal einen Fehler begangen.

  • Warum ist es eine Veränderung zum Guten hin, wenn man Normen überwindet? Die meisten Normen sind doch gut - ihre zu starre Anwendung ist öfters schlecht. Aber das gilt auch für neue Normen, die in Kämpfen die alten Normen ersetzen sollen. In einer guten Welt ist doch nicht die Überwindung der Normen das Ziel, sondern ein bei Bedarf flexiblerer Umgang. Was in jedem System, dessen Ausrufung ich bis jetzt verstanden habe, bleibt: es gibt immer Menschen, die sich bis auf den Grund ihrer Seele von irgendeiner Norm getroffen fühlen.

  • Butlers Problem ist wohl weniger ihre gegenaufklärerische Haltung als ihre Subjektposition im privilegierten La-La-Land der Berkeley Filterblase, wo man Mittags bei Chez Panisse überm biodynamischen 3-Gängemenü für $120 trefflich über die Not der Palästinenser lamentieren kann. Wäre glaubwürdiger, wenn sie sich gegen Rassismus und Gentrifizierung in Oakland engagieren würde statt Hisbollah abzufeiern.

  • Bitte Präpositionen und Kommasetzung in Zukunft checken. Der Artikel liest sich krude.

    Man äußert sich ZU einer Politik und GEGENÜBER einer Person oder Institution.

    Bei einem so anspruchsvollen Thema sollte sprachlich alles stimmen.

    • @cazzimma:

      Nun seien Sie mal nicht so keinlich.



      Sachauen Sie hier, wer mag's wohl geschrieben haben?

      Zitat:

      "Da mit sie vns je leren / die Schrifft des alten Testaments nicht zu verachten sondern mit allem vleis zu lesen / weil sie selbs das newe Testament so mechtiglich gründen vnd beweren / durchs alte Testament /vnd sich drauff beruffen."

      Zitat Ende

      • @Günter:

        Ok Ok. Vermittel althochdeutschmal -

        “Ik gihorta dat seggen,



        dat sih urhettun ænon muotin,



        Hiltibrant enti Hadubrant -



        soffen sich voll bis anden Rand



        und krochen nachhaus aufallen vieren“



        Zitatende ~ tlw ~ Volkers 👄 ~



        &



        Dem - war bekanntlich ja nix peinlich •



        &



        Eh's gar- & - Gestisch - wird. Gellewelle.



        Sorry. Aber - Ich faz es nicht. Newahr.



        Nö. Normal nich. 🤓

        kurz - “Ein kluger Kopf steckt immer dahinter.“ - Ach was! 👻 👻 👻

        • @Lowandorder:

          Prima, danke für's Hildebrandslied....der Text "Da mit sie vns je leren / die ....."ist übrigens aus Luthers "Vorrede auff das Alte Testament"



          www.zeno.org/Liter...das+Alte+Testament



          Die Sprache ist einfach genial..

          • @Günter:

            Ok - …eh ich “dachte been bei beene …“



            Mach ich alle & hubb lieber inne Falle.