Diskussion um Historiker Mbembe: Suche nach Eindeutigkeit
In der Debatte um den Antisemitismus-Vorwurf gegen Achille Mbembe dominiert klassisches Lagerdenken. Mehr Ambivalenz wäre angebracht.
D ie Diskussion über möglichen israelbezogenen Antisemitismus und Holocaustrelativierung durch unpassende Vergleiche des Philosophen Achille Mbembe zieht weite Kreise. Nach Attacken auf Mbembe formieren sich nun seine Verteidiger, fordern gar den Rücktritt des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, der die Diskussion ins Rollen gebracht hat.
Die taz hat die Debatte mit mehreren Essays weniger aufgeregt, mit überwiegend sachlichem Ton geführt. Doch obwohl die geäußerten Standpunkte sich vom Debattenniveau zu Mbembe in den sozialen Medien spürbar abheben, dokumentieren auch sie abgeschwächt das gleiche Problem, das seit langem die Positionierungen der Nahost- und Antisemitismusdiskussion prägt.
Was sich in dieser wieder und wieder zeigt, ist eine Logik der dezidierten Parteinahme und eine Suche nach Eindeutigkeit in der analytischen und ethischen Einordnung von Ereignissen oder Personen. Sie führt dazu, dass Mbembe meist entweder diskreditiert oder umfassend in Schutz genommen wird. Nicht zufällig erinnert das an die sonstigen Parteinahmen für Israel oder die Palästinenser*innen, die immer mit stärksten sprachlichen Waffen aufwarten (nicht selten NS-Assoziationen).
Abgesehen von in dieser Debatte mittlerweile zum entschuldigenden Grundton gehörenden floskelhaften Minimal-Distanzierungen wie „Wir teilen nicht alle seine Standpunkte“ oder „Manche von uns stehen so, andere so zu BDS“ lassen sich die meisten Beiträge doch einem der antagonistischen Lager zuordnen.
Jahrgang 1976, ist Ko-Leiter des Forschungsbereichs „Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte“ am Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin und Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung. Er ist u.a. Autor von „Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt“ (Göttingen, Wallstein 2013) und „Antisemitismus als Problem und Symbol“ (zus. mit Michael Kohlstruck, Berlin 2015) und schrieb jüngst für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und medico international ein viel diskutiertes Gutachten über die Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRA.
Dies verrät uns einiges über die Besonderheiten dieses Diskursfelds. In Politik und der Zivilgesellschaft wie in der Wissenschaft gibt es kaum einen fruchtbaren, erkenntnisfördernden Wettstreit über verschiedenen Sichtweisen auf die vertrackte Sache, eher Markierungen von Gegner*innen und Bundesgenoss*innen. Alle handeln im diskursiven Grabenkrieg, als gelte es, keinen Meter Land zu verlieren und für jeden Meter Landgewinn alle Waffen aufzufahren.
Unsicherheit, (korrigierbare) Fehler, Mehrdeutigkeit – dafür ist kein Platz an der Frontlinie. Welcher Mensch, welcheR Denker*in sollte dem dieser Diskussion offenbar zugrundeliegenden Reinheitsideal genügen können? Ist es denkbar, dass Mbembe ein wichtiger Theoretiker ist und trotzdem Dinge in seinem Denken zu kritisieren sind – ohne ihn deswegen gleich zu desavourieren?
Radikale Parteinahme
Diese tendenziell umfassende Parteinahme und Eindeutigkeit in den gesprochen Urteilen – ich habe sie in meinen Forschungen über die politische Linke „radikale Identifikation“ genannt – erstaunt. Denn kaum ein Konflikt ist aufgrund seiner Dauer, seiner internationalen wie regionalen Bedeutung, seiner real- und erinnerungspolitischen, religiösen, wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Bezüge so komplex und verworren wie der israelisch-palästinensische. Eine einfache Parteinahme für eine der Seiten, wenn sie als „Israel“ vs. „die Palästinenser*innen“ gedacht werden, oder in ihrer Verdopplung als weltweite Solidaritätslager, verbietet sich geradezu. Warum?
Dazu haben viele Beteiligte durchaus Gehaltvolles beigetragen. Ja, Mbembe bedient sich in seinen Kritiken an Israel einer teilweise hoch problematischen Sprache, die Anklänge an Muster hat, deren sich auch antisemitische Texte bedienen. Er greift zu stärksten sprachlichen Bildern, um seine Abscheu gegenüber der Besatzungspolitik Israels auszudrücken.
Saba-Nur Cheema und Meron Mendel weisen zu Recht auch darauf hin, dass Teile der Postcolonial Studies hier womöglich zu wenig sensibel und theoretisch versiert sind. Aber die Kritik trifft vielleicht mehr die Aneignung dieses Diskurses in politischen Alltagspraxen von Teilen der Critical-Whiteness-Szene mit ihren umgekehrten Essenzialisierungen als die Breite dieses Faches.
Vor allem gilt umgekehrt das Gleiche, worauf schon vor vielen Jahren der britische Soziologe Robert Fine hingewiesen hat: Die Forschung zu Rassismus und Antisemitismus findet noch überwiegend voneinander isoliert statt. Statt sich gegenseitig zu bereichern, verdoppelt die Wissenschaft die Opferkonkurrenz, die derzeit vor allem zwischen Betroffenen von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus immer wieder aufscheint.
Der Sprechort als Faktor
Die Verteidiger*innen Mbembes konzentrieren sich auf dessen unbestrittene Leistungen für die Postcolonial Studies und die Rassismusforschung und kontextualisieren sein Denken. Sie rücken die gröbsten Unrichtigkeiten der Angriffe gerade, beispielsweise Cheemas und Mendels Vorwurf, Mbembe richte sich gegen „die schiere Existenz des Judenstaats“ – auch gegen dessen explizite und völlig gegenteilige Stellungnahme in der Zeit.
Zugleich verweist die Verteidigung auf den Sprechort Mbembes, der in Südafrika lehrt, und damit auf vergleichbare Sprechorte anderer Theoretiker*innen des Postkolonialismus. Israel und der Apartheidstaat hatten enge Beziehungen, die auch durch rassistische und militaristische Aspekte geprägt sind. Dieser Kontext ist bedeutsam. Mbembes kritisierte Vergleiche mögen überzeugen oder auch nicht. Der Apartheid-Vorwurf beispielsweise ist unhaltbar im Hinblick auf die Lage der israelischen Araber*innen.
Anders sieht schon die Situation in den besetzten Gebieten aus. Ganz sicher trägt sein eher en passant erfolgender Vergleich zwischen der südafrikanischen Apartheid und dem nationalsozialistischen Judenmord nicht. Doch diese Bemerkung im Einklang bestenfalls mit der völlig vagen und widersprüchlichen, aber derzeit trotzdem hoch populären Antisemitismusdefinition der International Holocaust Rememberance Alliance als Beleg für Antisemitismus und Holocaustrelativierung zu werten, ist gewagt.
Aber es bleibt eine Leerstelle, die aus der Entkopplung dieser Diskurse folgt. Zu den aus antisemitismuskritischer Sicht nichtsdestotrotz bleibenden Problemen schweigen Mbembes Verteidiger jedoch oder tun sie als unseriös ab. Dies gilt für den Solidaritätsaufruf von Wissenschaftler*innen und noch mehr für Dominic Johnsons Kommentar zum Werkhintergrund des Philosophen.
So verständlich die Position der geschlossenen Reihen ist, wenn man sich die Grabenkriegssituation der Debatte und die zunehmende Verrechtlichung und Versicherheitlichung der ganzen Diskussion durch die Implementierung der IHRA-Antisemitismusdefinition und die verschiedenen Anti-BDS-Beschlüsse vor Augen hält, so wenig kann man sich damit abfinden.
Widerspruch und Dilemma
Denn der eigentliche Gegenstand des Streits, nicht Mbembe, sondern der Nahostkonflikt und seine Deutung, ist viel zu ambivalent, um einfache Positionierungen zuzulassen. Cheema und Mendel finden es beispielsweise inakzeptabel, wenn mit Nachdruck (sicher oft zu viel Nachdruck) auf die kolonialen Aspekte Israels hingewiesen wird. In ihrer Antwort versuchen Amos Goldberg und Alon Confino wiederum genau diesen Aspekt des Zionismus zu betonen, der in der deutschen, geschichtspolitisch überdeterminierten Wahrnehmung Israels als Folge des Holocaust nicht im Zentrum steht. Dieser Widerspruch verdeutlicht das ganze Dilemma in a nutshell.
Denn beides stimmt mehr oder weniger. Israel ist ebenso Konsequenz antisemitischer Verfolgung, also Zufluchtsort und mittlerweile schlicht Heimat, wie der Zionismus Aspekte eines Siedlerkolonialismus hatte und noch hat. Aus progressiver Sicht folgt daraus Empathie und Kritik. Die Suche nach Eindeutigkeit lässt oft nur eines davon zu. Ähnlich ließe sich übrigens für die „andere Seite“ argumentieren.
Palästinenser*innen kämpfen zu Recht gegen Besatzung und sind doch teilweise anfällig für Antisemitismus, verantwortlich für Terror gegen Israelis – sicher ebenso aus Verzweiflung wie aus Verblendung. Doch so betrachtet werden Abwägungen zu den Konfliktparteien und ihren Unterstützer*innen graduell, lassen sich Urteile nur in der Widersprüchlichkeit ihres Gegenstand bilden. Doch in der Debatte dominiert „Antisemitismus“, „Ausladen“ und „Rücktritt“ – oder Verteidigung. Mehr dazwischen und quer dazu erlaubt dieser Diskurs offensichtlich noch immer nicht.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen