Diskriminierung von Menschen mit Behinderung: Ableismus im Kurort
Drei FDP-Politiker aus Tann schreiben in einem Flugblatt, dass Menschen mit Behinderung der Grund für ausbleibenden Tourismus in der Stadt seien.
Selbst „langjährige Gäste kehren dem Kurort der Rücken“, da, so schreiben es die FDP-Politiker*innen, es „im Marktplatzbereich eine Konzentration von Touristen und Klienten des Tanner Diakoniezentrums“ gebe und so „Berührungspunkte unausweichlich“ seien.
Sätze wie diese lesen sich besonders erschreckend am 5. Mai, dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Das Flugblatt haben Stadtrat Klaus Dänner und Stadträtin Brunhilde Fischer sowie Andrea Willing unterzeichnet. Fischer ist FDP-Parteimitglied, Andrea Willing und Klaus Dänner wurden über die FDP-Liste ins Stadtparlament gewählt. Die Verfasser*innen positionieren sich vermeintlich „pro Inklusion.“ So steht am Ende des Flugblattes, dass „ein ausgewogenes Verhältnis der Bevölkerungsgruppen zu einer Akzeptanz und herzlichen Annahme aller Menschen“ beitrage.
Unglaubwürdig sind solche Sätze aufgrund von Äußerungen, die klar ableistisch und diskriminierend sind: „Das mit dem Krankheitsbild der Menschen mit geistigen und seelischen Beeinträchtigungen einhergehende Verhalten, wie z. B. mangelnde Distanz, können und möchten viele Touristen nicht aushalten.“ Menschen mit Behinderung stören also aus Sicht der Lokalpolitiker*innen den Urlaub von Menschen ohne Behinderung.
„Kopfschütteln“ beim Diakoniezentrum Tann
Als er das Flugblatt am 25. April im Briefkasten des Diakoniezentrums Tann gefunden habe, konnte er nur mit dem Kopf schütteln, sagt der Geschäftsführer Stefan Burkard gegenüber der taz: „Das ist etwas, das gibt es eigentlich nicht mehr in der heutigen Zeit. Das Unsichtbar-machen-Wollen von Menschen mit Behinderung im öffentlichen Raum.“ Seit 13 Jahren ist Burkard Geschäftsführer des Diakoniezentrums, etwas Derartiges habe er bisher nicht erlebt, er habe „völliges Unverständnis“ für das Flugblatt.
Keine*r der FDP-Politiker*innen habe bislang nach Veröffentlichung des Flugblattes das Gespräch mit ihm gesucht, so Burkard. Von seiner Seite aus habe es immer Bemühungen gegeben, im persönlichen Gespräch Lokalpolitiker*innen die Arbeit des Diakoniezentrums näher zu bringen, „offensichtlich ohne Erfolg.“
Ziel des Diakoniezentrums in Tann sei es immer gewesen, dass Menschen mit Behinderung mitten im Ort in Wohnungen leben. Nach Aussage Burkhards wohnen in der etwas mehr als 4.500-Einwohner*innenstadt Tann derzeit 94 stationär oder ambulant betreute Klient*innen des Diakoniezentrums. Diese Zahl habe sich in den letzten Jahren nicht großartig verändert. Kenntnisse, dass langjährige Gäste wegen Menschen mit Behinderung nicht mehr in den Kurort kämen, habe er nicht, sagt Burkard.
Auch der Tanner Bürgermeister Mario Dänner distanzierte sich von dem Flugblatt: „Seit Jahrzehnten schon gehört die Tanner Diakonie mit ihren Klienten zu Tann. Es besteht ein sehr gutes Miteinander, und die Stadt Tann ist stolz darauf, eine Einrichtung wie die Diakonie in Tann vorhalten zu können“, so Dänner gegenüber Osthessen-News, die als erstes über das Flugblatt berichteten.
Empfohlener externer Inhalt
Kritik gibt es auch vom hessischen FDP-Kreisvorstand. Mehrere Politiker*innen stellten das Flugblatt als Einzelmeinung dar. Für den FDP-Kreisvorsitzenden Mario Klotzsche stehe „außer Frage, dass behinderte Menschen gleichberechtigter und gleichwertiger Teil unserer Gesellschaft sind“, so Klotzsche gegenüber der hessenschau. Eine der Verfasser*innen, Andrea Willing, äußerte sich gegenüber der Fuldaer Zeitung und sagte, dass das Flugblatt „Sachdarstellungen“ enthalte und „nicht gegen Behinderte gerichtet“ sei.
Zum 30. Mal findet am 5. Mai 2022 der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen statt. Deutschlandweit gibt es Demos und Aktionen, um auf fehlende Inklusion und Barrieren hinzuweisen. Unter dem Hashtag #AbleismTellsMe machen Menschen mit Behinderung in den sozialen Netzwerken erneut auf Diskriminierungserfahrungen aufmerksam.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken