Diplomatische Eskalation in der Türkei: Erdoğan will Botschafter ausweisen
Der türkische Staatschef reagiert auf Diplomaten, die sich für den inhaftierten Osman Kavala einsetzen. Hintergrund dürfte die Währungskrise sein.
„Kümmern Sie sich darum“, rief er von der Kundgebung in Eskişehir seinem Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu zu, „kümmern Sie sich darum, diese zehn Botschafter so schnell wie möglich zur Persona non grata zu erklären“, also zu unerwünschten Personen. Entweder diese Botschafter, darunter auch zwei Frauen aus den Niederlanden und Neuseeland, und der deutsche Botschafter Jürgen Schulz würden „lernen, die Türkei zu verstehen, oder sie müssen von hier verschwinden“, rief er der begeisterten Menge zu.
Die Begeisterung seiner Fans in Eskişehir für eine solche bislang beispiellose Eskalation gegenüber dem Westen wird aber offenbar selbst in seiner Partei und seiner Regierung nicht überall geteilt. Schon ein Blick in die Zeitungen am Sonntag zeigt, dass die regierungsnahe Presse nicht so recht weiß, wie sie mit dem neuesten Vorstoß ihres Bosses umgehen soll.
Das wichtige Propagandablatt Sabah versteckt die Nachricht auf Seite 10, während die Oppositionszeitung Cumhuriyet groß damit aufmacht, weil sie davon ausgeht, dass Erdoğan sich mit einem solchen Schritt selbst „in den Abgrund“ stürzen würde, wie es ein türkischer Kollege formulierte.
Der Präsident schäumt
Wichtiger noch als die Presse ist aber die Haltung von Außenminister Çavuşoğlu. Als am vergangenen Montag der Brief der zehn BotschafterInnen, in dem sie in wohlgesetzten diplomatischen Worten die Freilassung des bekannten Menschenrechtlers und Kulturmäzens Osman Kavala forderten, im türkischen Außenministerium einging, soll Erdoğan bereits geschäumt haben.
Erdoğan gegenüber JournalistInnen
Das Außenministerium musste die BotschafterInnen umgehend einbestellen und ihnen mitteilen, dass ihr Verhalten „unangemessen und inakzeptabel“ sei. Außenminister Çavuşoğlu war offenbar der Meinung, dass die Angelegenheit damit erledigt ist, und ging auf eine lange geplante Asienreise, unter anderem nach Südkorea, um dort Panzermotoren einzukaufen.
Erdoğan selbst befand sich zu dem Zeitpunkt auf einer viertägigen Afrikareise. Auf dem Rückweg nach Ankara gab er den mitreisenden türkischen Journalisten ein ausführliches Interview und machte dort bereits klar, dass er die Sache mit den Botschaftern, anders als sein Außenminister, noch lange nicht für erledigt hält.
In seiner bekannten Angriffsrhetorik sagte er an die Adresse der Botschafter: „Steht es euch zu, der Türkei eine solche Lektion zu erteilen?“ Der Brief sei „unanständig“. „Würden Deutschland oder die USA etwa Mörder und Terroristen laufen lassen, nur weil eine auswärtige Macht das fordert?“ Indirekt drohte er schon am Donnerstag mit dem Rauswurf der BotschafterInnen.
Verrückt oder Strategisch?
In einschlägigen Kreisen in Ankara hieß es, das Außenministerium habe in den folgenden zwei Tagen versucht, Erdoğan von einer Eskalation im Streit um die Freilassung von Kavala abzubringen. Vergeblich, wie der Präsident am Samstagnachmittag klarmachte. Er will offenbar den Affront.
Was treibt Erdoğan an, sich mit den USA, der EU und Kanada und Neuseeland gleichzeitig anzulegen? Auf den Westen einzudreschen war schon immer ein probates Mittel des türkischen Alleinherrschers, um nationalistische und islamistische Emotionen in der Türkei anzufachen. Aber gleich gegen den ganzen Westen?
Je größer seine Probleme, umso größer muss der Feind sein, sagt man sinngemäß in der Opposition zur Erklärung von Erdoğans Verhalten. Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu twitterte am Samstagabend: „Erdoğan will mit der Affäre nur von der desolaten wirtschaftlichen Situation des Landes ablenken.“
Abwarten und çay trinken
Tatsächlich war die wirtschaftliche Situation der Türkei seit Erdoğans Amtsantritt nie so bedrohlich wie heute. Die türkische Lira ist im freien Fall, die Lebensmittel werden jeden Tag teurer und die Arbeitslosigkeit ist derzeit der einzige Indikator, der nach oben geht. Viele TürkInnen sind verzweifelt, weil sie nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen, gerade auch unter den AnhängerInnen Erdoğans.
Entsprechend geht die Zustimmung zu Erdoğans Regierung steil nach unten. Der hofft offenbar, mit seiner beispiellosen Attacke auf „den Westen“ das Steuer noch herumreißen zu können. Also wird er es wirklich tun? Außenminister Çavuşoğlu wird am Sonntagabend zurückerwartet. Er müsste die Ausweisungen formal vollziehen.
Am Montag wird sich zeigen, ob Erdoğan es wirklich ernst meint. Auch in den westlichen Hauptstädten wartet man erst einmal ab. Offiziell liegt noch nichts vor, heißt es in Berlin, „wir stimmen uns eng mit den anderen betroffenen Ländern ab“. Das State Department in Washington sagte, man „warte auf nähere Erläuterungen“ vom türkischen Außenministerium. Mevlüt Çavuşoğlu ist jetzt am Zug.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?