piwik no script img

Dinge des Jahres 2018Neues Symbol der Pressefreiheit

Bei seiner Entlassung aus der türkischen Haft überreichte der Journalist Deniz Yücel seiner Ehefrau einen Strauß Petersilie. Sie war ihre „Blume der Liebe“.

Als Taboulé, Blumenstrauß oder Symbol für Pressefreiheit: Petersilie ist vielseitig Foto: unsplash/Pintando La Luz

Die Petersilie ist ein Neophyt. Das bedeutet, dass sie eine Pflanze ist, die sich in einem Gebiet etabliert hat, mit dem sie ursprünglich nichts zu tun hatte. Einer der berühmtesten Ärzte der Antike, Dioskurides, nennt Makedonien als Wachstums­ort der Petersilie.

Deswegen ist die Pflanze als „Pe­tro­seli­non to makedonikon“ oder „Petro­selinum macedonicum“, also „makedonische Petersilie“, bekannt geworden. Im Türkischen ist der makedonische Ursprung noch in dem Wort „Maydanoz“ enthalten.

Der etymologische Auskennerkram wäre aber nicht weiter interessant, wäre die Petersilie in diesem Jahr nicht zu einem Symbol geworden – dem Symbol der Pressefreiheit. Und wäre derjenige, mit dem dieses Symbol verknüpft ist, nicht jemand, dessen Eltern aus Makedonien stammende Türken sind.

Es ist der deutsche Journalist Deniz Yücel. Vom 14. Februar 2017 bis zum 16. Februar 2018 war der Türkeikorres­pondent der Welt von der türkischen Regierung zunächst in polizeilichem Gewahrsam in Istanbul und dann im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri festgehalten worden. Der Grund: Er hatte seine Arbeit gemacht. Der Rest ist bekannt.

Symbol für den Kampf um Pressefreiheit

Einiges von dem, was nicht bekannt ist, lässt sich im Frühjahr in seinem Buch „Agentterrorist. Wie ich einmal eine schwere diplomatische Krise ausgelöst habe und warum es nicht reicht, besorgt zu sein“ nachlesen.

Dass die Petersilie zum Symbol für den Kampf um Pressefreiheit wurde, liegt daran, dass Deniz Yücel in einem seiner Briefe aus dem Gefängnis beschrieb, dass er bei seinen wöchentlichen Bestellungen im Knastladen gern Grünzeug einkaufte: Dill, weil ihn das an Bäume erinnerte, Petersilie, weil sie ihn an seine Frau Dilek Mayatürk-Yücel erinnerte.

Dinge des Jahres 2018

Im Jahresrückblick der taz am wochenende menschelt es nicht, versprochen. Nach allzu menschlichen Weihnachtstagen haben wir uns den Dingen des Jahres zugewandt. Menschen sterben oder verlassen das Scheinwerferlicht, aus vermeintlichen Sensationen wird Alltag. Aber die Dinge des Jahres, die bleiben.

Sie hatte die Petersilie in ihrem ersten gemeinsamen Urlaub zur „Blume unserer Liebe“ erklärt. Diese Petersilie steckte der Inhaftierte dann in abgeschnittene Plastikflaschen, seine Ersatzvasen.

Am 16. Februar stand ich mit Dilek Mayatürk-Yücel, dem Anwalt Veysel Ok, dem Welt-Kollegen Daniel-Dylan Böhmer, dem deutschen Generalkonsul Georg Birgelen und den beiden Freunden Imran Ayata und Mustafa Ünalan vor dem Gebäude des berüchtigten ­Silivri 9. Zunächst waren Leute rausgekommen, die mehrere blaue Müllsäcke vor uns stellten und sagten, dass seien Deniz’ Sachen.

Und dann war es wie im Film: Durch eine kleine offen stehende Tür in dem riesigen eisernen verschlossenen Tor kam Deniz gelaufen. In der Hand einen Strauß Petersilie. Die Wachen vor dem Tor hatten uns verboten, Fotos zu machen. In diesem Moment dachte aber auch niemand von uns an Fotos. Wir schrien vor Freude.

Betonwände, Gefängniszellen und Freiheit

Aber Veysel Ok, Deniz’ Anwalt, berühmt für seine kluge Gelassenheit, zückte sein Handy und machte das Foto des Jahres: Deniz umarmt Dilek, mit einem Petersilienstrauß.

Das Kulturmagazin des Goethe-In­stituts, das goethe, hatte als Titelbild seiner diesjährigen Ausgabe zum Thema „Freiheit“ einen Strauß Petersilie, der in einer abgeschnittenen Plastikflasche steckt und vor einer grauen Betonwand steht. Großartig!

Ursprünglich hatte die Petersilie nichts zu tun mit Betonwänden, Gefängniszellen und Freiheit. Jetzt hat sich der doldenblütelnde Neophyt auch dieses Gebiet erobert. Übrigens: Dass die Petersilie makedonischen Ursprungs ist, wusste Deniz bisher nicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!