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Digitales Lernen in Corona-ZeitenPlötzlich Realexperiment

Forscher haben Lernformen per Internet untersucht – durch die Corona-Pandemie plötzlich mitten im weltgrößten Experiment zur Onlinelehre.

Düsseldorf: Blick auf leere Stuhlreihen in der Aula des geschlossenen Humboldt-Gymnasiums Foto: Rolf Vennenbernd

BERLIN taz | Die Digitalisierung wird das Bildungswesen verändern, aber wie? Das wollten Bildungsforscher am Berliner Weizenbaum-Institut für Internet und Gesellschaft genauer untersuchen und machten sich Anfang des Jahres auf den Weg ins Silicon Valley nach Kalifornien, einer Wiege digitaler Lerntechniken für einen besseren Unterricht. Doch dann kam das Coronavirus und stellte alles auf den Kopf. Vor dem Hintergrund landesweiter Schließungen von Schulen und Universitäten hat sich nun die Forschungsfrage verändert: Nur digital lässt sich der Bildungskollaps vermeiden – Tele-Unterricht ist das Gebot der Stunde.

„Uns interessiert, wie das deutsche Bildungssystem auf eine solche Epidemie vorbereitet ist und wie schnell Lehre und Wissensvermittlung ins Digitale überführt werden können“, erklärt Gergana Vladova, die die Forschungsgruppe Bildung und Weiterbildung in der digitalen Gesellschaft leitet. Um Vergleichsmöglichkeiten zu gewinnen, wurde auch die Situation im Ausland, besonders in China, untersucht. „Es ist sehr spannend zu sehen, was China an Maßnahmen eingeleitet hat, um die Lehre aufrechtzuerhalten“, ergänzt André Renz, der am Weizenbaum-Institut eine Forschungsgruppe mit Fokus auf datenbasierte Geschäftsmodelle im EdTech-Bereich leitet.

In einer Ad-hoc-Aktion erziehungswissenschaftlicher Feldforschung wurden in den letzten zwei Wochen Interviews mit Forschungs- und Kooperationspartnern aus Hongkong, Wuhan, Peking und Berlin geführt. „Es wurde in den Gesprächen mit Schulen deutlich, dass sich der Möglichkeitsraum einer volldigitalisierten Lehre im Dualismus zwischen totaler Ohnmacht und sofortiger Einsatzbereitschaft erstreckt“, sagt Renz. Diese Diskrepanz habe aber nur zum Teil ihre Ursache in der ungleichen IT-Infrastruktur der Schulen. Selbst wenn eine Schule mit einem LMS (Learning Management System) ausgestattet ist, sei keineswegs gegeben, dass auch wirklich alle Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrer dort registriert sind und ihre Kontaktdaten hinterlegt haben.

Ein weiterer Faktor ist das Engagement und ein hohes Maß an Eigeninitiative der Beteiligten, wozu beim Home-Learning auch die Eltern gehören. „Dies wurde von den Schulen, mit denen wir gesprochen haben, deutlich betont“, merkt Renz an. Nicht selten stellt sich heraus, dass die digitalen Lehrinhalte und Übungen noch nicht ausreichend trainiert worden sind. Von einigen Schulen hat Renz erfahren, „dass die Kompetenzprofile und Souveränität der Lehrkräfte im Umgang mit dem Einsatz digitaler Lehrmethoden partiell nur sehr basal ausgeprägt sind“.

Wandel der Bildung

Die gleichen Praxisdefizite wurden auch aus China gemeldet. Das Weizenbaum-Institut wurde 2017 als ein Konsortium von Berliner Hochschulen gegründet und war mit diesem Konzept beim Wettbewerb des Bundesforschungsministeriums um das führende deutsche Internet-Institut so erfolgreich, dass die Siegprämie – 50 Millionen Euro für fünf Jahre – an die Spree ging. Seitdem werden in dem Forschungsinstitut, das in der Berliner Hardenbergstraße in einem ehemaligen Bankgebäude untergebracht ist, die Transformationen der digitalen Gesellschaft interdisziplinär untersucht, mit dem Schwerpunkt auf sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen. Ein Thema ist der Wandel der Bildung.

Dabei geht es nicht nur um den Einsatz und die Didaktik digitaler Schulbücher, smarter Lernprogramme oder MOOCs an den Universitäten (Massive Open Online Courses = Hochschul-Vorlesungen im Internet) und weiterer Hilfsmittel der EdTech-Lernprogramme, die inner- wie außerhalb des Klassenraums genutzt werden. Ein neues Forschungsfeld mit dem Namen „Learning Analytics“ befasst sich damit, wie die riesigen Datenschätze, die beim digitalen Lernen anfallen, für weitere pädagogische Schritte genutzt werden können. Wie sollten Lerninhalte präsentiert werden, damit sie am besten verstanden werden? Wie sieht der optimale Ablauf eines Schultags aus? Wie sollte unser Schulsystem aufgebaut sein? Die Lerndaten, mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) ausgewertet, könnten Antworten darauf geben.

Es ist spannend, was China für Maßnahmen eingeleitet hat

Dr. André Renz

Wie sich diese Entwicklung in den USA vollzieht, sollte in einer Forschungsreise im Januar herausgefunden werden, die ins Silicon Valley führte, wo viele Leuchtturmprojekte angesiedelt sind. „Im öffentlichen Diskurs wird immer wieder auf den nordamerikanischen Raum als Vorreiter der Digitalisierung der Bildung verwiesen“, erklärt Renz. „Wir stellten dann aber fest, dass es in den USA noch sehr viele Unsicherheiten über den Einsatz digitaler Lösungen in den Schulen gibt, die sehr ähnlich zu den Herausforderungen in Deutschland sind.“ Ein weiteres Ergebnis: „Learning Analytics und KI sind keine relevanten Themen für öffentliche Schulen, da diese oftmals mit viel rudimentäreren Herausforderungen zu kämpfen haben.“

Neue Lerntechniken

In den Schulen geht es vor allem um die Frage, wie diese Technologien praktisch eingesetzt werden, während „die Fragen nach dem Warum nur langsam an Relevanz gewinnt“. Auch der Datenschutz sei „ein sehr diverses Thema“. Einen eindeutigen Vorteil des kalifornischen Schulsystems sieht Renz dagegen in der Infrastruktur: „In den Schulbezirken und in größeren Schulen gibt es EdTech-Beauftragte, die alle Themen und Anliegen zur Digitalisierung zentralisieren“. Diese Personalie fehle in Deutschland. Renz: „Wie wir wissen, ist es mit der bloßen Bereitstellung von IT leider nicht getan.“

Jetzt hat das Coronavirus das klassische Schulwesen zumindest zeitweise zum Erliegen gebracht. Wie digitale Lerntechniken in dieser Situation einspringen können, ist derzeit ein Realexperiment mit mehr als zehn Millionen Teilnehmern. Die Weizenbaum-Forscher werden den Ablauf begleiten, womöglich beeinflussen. Der Shutdown betrifft auch den tertiären Bildungssektor, das Hochschulsystem. Mit der von Gergana Vladova durchgeführten Hochschulumfrage an insgesamt mehr als 100 Universitäten wurde ein aktuelles Stimmungsbild unter Universitätslehrenden ermittelt, einschließlich ihrer Bereitschaft, den Lehrbetrieb in kurzer Zeit vollständig onlinebasiert durchzuführen. Die ersten 200 ausgewerteten Antworten zeigen unter anderem, dass die Mehrheit der Befragten die Krise als Chance verstehen, den Einsatz digitaler Techniken in der Lehre vermehrt zu fördern. Ein Interviewpartner aus der Universität in Wuhan fasste es in die Worte: „Wir befinden uns mittendrin im vielleicht größten Experiment zur Onlinelehre.“

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