: DieverschwundeneSiedlung
Wo heute die Köhlbrandbrücke den Hamburger Hafen überspannt, existierte einmal eine kleine Welt für sich: die Siedlung Neuhof. Elke Rahn lässt sie nicht mehr los
Aus Hamburg Karoline Gebhardt (Text) und Miguel Ferraz (Fotos)
Hier hat schon lange kein Kind mehr den Unterricht besucht. Das Erdgeschoss der alten Schule ist mit Graffiti besprüht, das Ziegeldach bewachsen von Flechten und Moos. Der Rotklinkerbau mit weißen Sprossenfenstern, von denen die meisten eingeschlagen sind, ist heute nur noch ein Überbleibsel aus der Zeit, als Hamburg-Neuhof ein lebendiges Viertel war. Heute qualmt und lärmt es in dem Industriegebiet eigentlich nur noch.
Etwa einen Kilometer von der alten Schule entfernt befindet sich die Köhlbrandbrücke. Eine markante Schrägseilkonstruktion im Hamburger Hafen, die Wilhelmsburg mit der A7 verbindet. Sie überspannt den Köhlbrand, einen Seitenarm der Elbe, und ist eines der bekanntesten Wahrzeichen Hamburgs – steht aber wegen baulicher Mängel vor dem Abriss. Sie beginnt mit der ansteigenden östlichen Rampenbrücke, ehe Autos und LKW in über 50 Metern Höhe den Köhlbrand überqueren.
Was nur wenige wissen: Unmittelbar neben der Köhlbrandbrücke lebten einst über 3.000 Menschen, ein wenig abgekapselt in ihrem eigenen Habitat. Zwischen der Nippoldstraße und der Köhlbrandstraße, die es heute nicht mehr gibt, standen 87 vierstöckige Wohnhäuser in zwei Blocks. 1979 wurden die Häuser abgerissen. Vom alten Leben ist bis auf zwei Gebäude nicht viel geblieben – Neuhof wirkt heute wie eine Geisterstadt mitten im Hamburger Hafen.
Elke Rahn geht mit kleinen Schritten die Straße entlang. Ihr graues Haar trägt die 80-Jährige kurz, ihren Fiat 500 hat sie direkt unter der Brücke geparkt. Dort stand früher ein Zaun, dahinter der Freihafen. Die Kinder hätten dort immer Essen geklaut, im Krieg, erzählt sie. Rahn kennt sich hier aus. Die Großeltern ihres Mannes sind 1912 als erste Bewohner des ersten Blocks eingezogen.
Dort, wo Familie Rahn damals mit sechs Kindern in einer 2-Zimmer-Wohnung gelebt hat, ragen nun eierschalenfarbene Silos der Firma ADM in die Höhe. Alle paar Minuten donnern LKW vorbei, dumpfes Dröhnen hallt zwischen den Pfeilern der Brücke, wenn Autos darüberfahren, und das nahe gelegene Fabrikgelände verursacht ein Grollen, dass der Boden vibriert. Dass dieser Ort einst ein vorstädtisches Idyll war, bleibt allein in den Erinnerungen alter Neuhofer erhalten.
Neuhof boomte mit dem Aufschwung der Werften in der Nachbarschaft. 1888 nahm die Oelkers-Werft die Arbeit auf, ab 1906 wurde die Vulcanwerft gebaut, die zur Stettiner Maschinenbau AG „Vulcan“ gehörte. Viele Arbeiter kamen aus Stettin nach Hamburg. Neuhof wurde zu einer Siedlung für die Arbeiter aus Pommern.
Auch Elke Rahns Schwiegergroßeltern sind auf diese Weise nach Neuhof gekommen. Die gesamte Familie ihres Mannes Klaus wohnte in den Wohnblocks. Das Leben hier sei einfach und fröhlich gewesen, sagt Elke Rahn. Die Neuhofer waren zufrieden in ihrem Areal direkt an der Elbe. „Ruhig, freundlich, hilfsbereit. Pommern halt, nä.“
Während sie ihren Blick über das Fabrikgelände schweifen lässt und mit dem Finger markiert, wo die Häuserblocks gestanden haben, erzählt sie von Kleingärten am Ufer, einem Deich mit alten Fischerhäuschen und Sandstrand, dem Kino im alten Kuhstall und von Einkaufstouren mit dem Ruderboot.
Es habe hier alles gegeben: einen Milchmann, Gemüse- und Blumenläden, einen Herrenschneider, einen Friseur. Insgesamt waren es 59 Kleingewerbe und Ladengeschäfte, inklusive Arztpraxen und Kneipen. „Und es gab eine Bäckerei, einen Stettiner, der hatte Stettiner Salzbrötchen. Die waren lecker.“
Elke Rahn hat ihr Leben lang als Verlagskauffrau gearbeitet. 1964 heirateten sie und ihr Mann. „Wir wollten gerne nach Neuhof ziehen, da die Wohnungen auch damals schon sehr preiswert waren“, erklärt sie. Das habe allerdings nie geklappt, aber „wir waren trotzdem immer auf Neuhof unterwegs“.
Um die Erinnerungen lebendig zu halten, organisierten ihr Mann und sie das „Neuhof-Treffen“, zu dem alle zwei Jahre mehrere Hundert Neuhofer kamen. Teilweise reisten sie extra aus Kanada oder der Schweiz an. Elke Rahn hat die Geschichte Neuhofs recherchiert, sortiert, archiviert. Aus ihrem kleinen Fiat 500 holt sie drei Aktenordner. Elke Rahn muss sie hochhieven, so schwer sind sie. Diese drei Ordner seien nur ein kleiner Teil, sagt sie. „Die anderen Ordner waren zu schwer.“ Sie stehen im Keller ihres Reihenhauses in Hamburg-Niendorf, den sie später zeigen wird.
Jetzt, im Auto, blättert Elke Rahn durch Fotografien von Neuhof mit und ohne Köhlbrandbrücke, die sie sorgfältig auf Pappe geklebt hat. Durch Luftaufnahmen, die sie von einer Quelle bekommt, die sie geheim halten möchte, alte Schulfotos aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts mit ernst dreinblickenden Kindern, Schriftstücke in Sütterlin, Mietverträge aus den 1930er-Jahren, Landkarten, die die Hamburger Inseln vor und nach der Cäcilienflut 1412 zeigen. Auch den Bau der Köhlbrandbrücke 1970 hat sie kleinteilig dokumentiert. Auf den Fotos ist zu erkennen, wie sich die Lücke zwischen den beiden Enden allmählich schließt.
Auch der Verfall der Neuhof-Siedlung ist zu sehen. Auf einem Foto ist neben der fast fertig gestellten Köhlbrandbrücke ein halb abgerissenes Haus abgebildet. Die Fassade ist schon entfernt, Fenster sind eingeschlagen, ein Querschnitt der Wohnungen ist entstanden. Die Tapeten sind in typischem 70er-Jahre-Design grün, lila, braun und gelb gemustert. Darum herum die ausgefransten Reste der einstigen Wände.
In ihrem Keller in Niendorf hat Elke Rahn Zeitungsausschnitte gesammelt, die das Schicksal von Neuhof dokumentieren. Ihren Keller nennt sie „Kontor“, sie hat ihn gemütlich eingerichtet. Bilder von Schiffen zieren die Wände, dazwischen hängen Regale mit Ordnern. „Alles, was irgendwie mit Neuhof zu tun hat,“ sagt sie, während sie die Ordner auf den Schreibtisch legt. Die Dokumente möchte Rahn irgendwann dem Kulturzentrum Honigfabrik in Wilhelmsburg schenken.
Die Wilhelmsburger Zeitung berichtete ab den späten 1960er-Jahren regelmäßig von den Veränderungen im Stadtteil durch den Brückenbau. „Wer will, kann wegziehen“, titelte das Blatt im Juli 1968. Damals fand eine Versammlung in der Schule statt. 500 Bewohner drängten sich in die Aula, um von den Hamburger Senatoren Helmuth Kern und Cäsar Meister zu erfahren, dass der Brückenbau unumstößlich sei. Ein Abriss der Häuser würde aufgrund der guten Bausubstanz nicht erfolgen, wer jedoch umziehen wolle, könne seine Wünsche für eine neue Bleibe postalisch äußern und würde dann eine Sozialwohnung an anderer Stelle bekommen.
Damals wurde auf Neuhof nicht nur die Köhlbrandbrücke gebaut, es wurden auch viele Industrieanlagen errichtet. Verkehrs- und Baulärm, nächtlich vorbeifahrende Güterzüge, Schmutz und Abgase bestimmten von da an den Alltag. „Man kann nicht mehr spazieren gehen, der Verkehr wird immer stärker,“ sagte ein Bewohner gegenüber der Wilhelmsburger Zeitung. Er würde ja gern von Neuhof fortgehen, aber auf der Elbinsel Wilhelmsburg wolle er bleiben: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr.“
1971 dann erschien in der Wilhelmsburger Zeitung ein Artikel mit der Überschrift „Auf der Elbinsel halten alle zusammen“. Von gut erhaltener Bausubstanz ist nicht mehr die Rede. Stattdessen von „unfreundlichen, vom Zahn der Zeit angenagten Hauswänden“. Und von Eingängen, an denen Namen von Generationen stehen.
Es ist still in Elke Rahns Kontor. Man hört nur das Blättern der Seiten in den Ordnern. Auf den Fotos sitzen Menschen in kleinen Booten an ihrem Strand. Sie stehen vor ihren Läden, sitzen in ihren Kneipen, Kinder spielen auf der Straße.
All das gibt es nicht mehr, die meisten Spuren sind verwischt. Eine ganze Nachbarschaft ist verschwunden. Nur den Straßenzug unter der Köhlbrandbrücke gibt es noch. Das Eckhaus am Neuhofer Damm ebenfalls. Und die alte Schule, in der niemand mehr lernt.
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