■ Schlagloch: Dieses Jahr in Jerusalem Von Nadja Klinger
„Hitler hat noch nicht die ganze Arbeit für uns gemacht“ Ein Student der
palästinensischen Universität Bir Zeit, Westjordanland, September 1997
Der Horizont ist nicht zu sehen. Er befindet sich hinter den Bergen, die zwar nicht sehr hoch sind, das verdorrte Land jedoch wenigstens über den Meeresspiegel heben. Auf diesen Bergen breitet sich die „Stadt des Friedens“ aus: Zahllose Türme, Kuppeln und Minarette, die uralten und die jüngeren Heiligtümer verschiedener Religionen, strecken sich aus ihr empor, als gehe es darum, welches von ihnen als erstes den Himmel berührt. Der Konflikt ist weithin sichtbar. „Die Stadt“, sagt der Schriftsteller Amos Elon über Jerusalem, „ist vergiftet von ihrer Vergangenheit.“
Wir stehen, östlich und nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt, inmitten einer geputzten jüdischen Siedlung. Als er einst herkam, erzählt uns ein alter Mann, gab es hier keine einzige grüne Pflanze. Mittlerweile sind die Bäume und Büsche im Ödland gewachsen wie der Ort, durch den der Siedler stolz hindurchführt. Hier verwirklicht sich sein Leben als Jude in Palästina, das Städtchen umschließt all seine Träume vom Frieden und vom Staat Israel – sowie die Straße, die aus dem arabischen Ostteil Jerusalems herausführt. Es gibt für die Araber keinen eigenen Weg aus der Stadt heraus, sie müssen, wenn sie in die Westbank wollen, durch die jüdische Siedlung hindurch. „Sie können Frieden haben oder Jerusalem“, sagt Amos Elon über die Juden und Palästinenser, „aber nicht beides.“
Einen Satz dieser Art lesen und zitieren wir in Europa gern. Er strukturiert das uns Fremde auf bekannte Weise und verschafft uns somit einen Überblick. Schließlich wissen wir, wie es geht, über Verhandlungen zum Ziel zu kommen: was wir geben müssen, um etwas zu bekommen, wie wir Schwäche ausnutzen und Stärke profilieren können. Obendrein kennen wir in der westlichen Demokratie den Druck der Wahlen sowie die Strategien der Opposition genau, haben sogar den Terrorismus schon hinter uns. Und: „vergiftet von der Vergangenheit“ – selbst das kommt uns bekannt vor. Uns hier interessiert lediglich der Friedensprozeß, lassen Redaktionen in Deutschland ihre Korrespondenten im Nahen Osten seit Jahren wissen. „Über die Menschen in Israel und Palästina, über ihren Alltag kann ich erst schreiben, seit von den Osloer Friedensverhandlungen kaum noch etwas da ist und dies – auch für Europa offensichtlich – weder mit politischem Kalkül noch mit Unvermögen der Politiker hinreichend zu erklären ist“, erzählt eine deutsche Journalistin in Jerusalem.
Das Bild, das die Presse uns vom Nahen Osten gemalt hat, paßt nicht zu den Worten, mit denen der alte Jude uns durch die Siedlung vor der Ostgrenze von Jerusalem führt. Er spricht von Schulen und Geschäften, die die Siedler aufgebaut haben; wir sind angespannt und nicht aufnahmefähig für diese Einzelheiten. Wir sind weder voreingenommen noch uninteressiert, doch in dem Drang, das Phänomen seines Denkens erklären zu wollen, entfernen wir uns immer mehr von dem Mann. Als er uns Kaffee und Tee anbietet, bleiben die Stühle in seiner Nähe zunächst leer. Die Distanz zwischen ihm und uns ist jetzt sogar sichtbar. Als wir das merken, sind wir lediglich höflich und besetzen die leeren Plätze, geben ihm und uns jedoch keine Chance. „Warum siedeln Sie ausgerechnet an dieser politisch so empfindlichen Stelle?“ ist das Naheliegendste, das wir fragen könnten. Und deshalb tun wir es.
In Israel zu sein, sich umzusehen und zuzuhören reicht nicht. Solange wir die naheliegenden Fragen stellen, erfahren wir nichts über die Ferne. So tun wir nichts anderes, als Geschichte zu fressen, bis wir uns satt fühlen. Dann aber stecken wir den Finger in den Hals und kotzen alles wieder aus, damit wir unsere gewohnte Figur behalten. Fernes, Unbekanntes erreichen wir nur, indem wir uns von unseren Vorstellungen trennen, indem wir denken, wie wir nie gedacht, und sprechen, wie wir nie gesprochen haben. Wir müssen uns selbst verändern, und vermutlich würde es uns dabei nicht gut gehen, Fragen würden uns quälen, doch wir dürften sie nicht stellen, denn wir wüßten: Erst wenn wir den Drang verloren haben, das Fremde zu erklären, haben wir es begriffen.
Hundert Kilometer nördlich von Jerusalem, auf israelischer Seite der grünen Grenze zur Westbank, liegt Givat Haviva, ein jüdisch-arabisches Zentrum für Frieden. Hier begegnen sich Israelis und Palästinenser, Kinder sowie Erwachsene, jedoch nicht mit dem Ziel, bald Freundschaft zu schließen, sondern in vollem Bewußtsein des Konflikts, in dem sie sich befinden. Starke und Schwache, Mehrheiten und Minderheiten stehen sich gegenüber und folgen ihrem natürlichen Trieb: Einer lehnt den anderen ab. Nichts verbindet sie, dennoch bewegen sie sich langsam aufeinander zu. „Wege entstehen beim Gehen“, sagen die Initiatoren von Givat Haviva. Sie tun nichts weiter, als den Israelis und Palästinensern eine sogenannte „Arbeitssprache“ beizubringen, die sie in die Lage versetzt, über sich selbst zu reden und damit ihre „innere Realität“ mit der „äußeren“ zu konfrontieren. Beide treffen nur stundenweise und im Abstand von Monaten auf den jeweils anderen und verlassen ihn im Disput. „Die Treffen sind Mittel, nicht Ziel“, sagt einer der Lehrer. „Wichtiger ist der Prozeß, der beginnt, wenn unsere ,Schüler‘ nach Hause zurückkehren.“
Ohne sich von sich weg zu bewegen ist eine Wirklichkeit außerhalb der eigenen nicht zu begreifen. „Die Realität hat mich 1949 aus Frankfurt hergebracht. Ich will hier leben und essen – dann erst kommt die Politik“, sagt der jüdische Siedler. Das ist das Weltbild des Vertriebenen, des Verfolgten, des Opfers. Doch so, wie wir es verstehen, macht jeder Jude Politik, der außerhalb der Grenzen, die die Vereinten Nationen 1948 für den Staat Israel festlegten, lebt und ißt. Zusammenleben, um Frieden zu haben, oder Frieden haben, um zusammenleben zu können, schließt sich nur dann aus, wenn man es erklären will. Denn so denkt man nicht in Europa; aber in Israel. Dort, wo das unablässige Graben nach alten Steinen Politik ist, wo innerhalb von nur zwei Jahren Tausende Freiwillige den jüdischen Mythos Massada freischaufelten, eine Festung, wie man sie sonst auf der Welt in 20 Jahren nicht freilegt.
Und während junge israelische Rekruten dort ihren Eid „Nie wieder wird Massada fallen“ ablegen, bedenkt der palästinensische Student in Bir Zeit, nur wenige Kilometer entfernt, die Juden mit dem Satz, bei dem wir erstarren: „Hitler hat noch nicht die ganze Arbeit für uns gemacht.“
Unser ganzes Wissen, das wir von zu Hause mitgebracht und in Israel angereichert haben, soll uns dabei helfen, selbst das zu verstehen. „Die Intellektuellen“, erklärt uns schließlich ein Historiker der Hebräischen Universität Jerusalem, „sind in der Geschichte immer zu überzeugen – und dadurch zu mißbrauchen gewesen.“ Wir sind viel zu gebildete Europäer, um nicht genau zu wissen, was er damit meint. So entfernen wir uns immer weiter von dem Phänomen.
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