Diesel weg, Nahverkehr her: Die Wien-Idee
Bus und Tram umsonst in Deutschland? Ein Blick gen Österreich zeigt: Das reicht nicht. So sieht das auch Heinrich Strößenreuther.
Heinrich Strößenreuther hat eine Petition aufgesetzt. Das allein wäre keine Nachricht, es gibt Hunderte davon. Aber: Wenn Strößenreuther eine aufsetzt, kann das für die Politik ganz schön lästig werden.
Der Berliner Verkehrsexperte fordert, die Steuervergünstigungen für die über 12 Millionen Dieselfahrzeuge in Deutschland abzuschaffen und die 8 Milliarden Euro, die das spart, in Busse und Bahnen in Deutschland zu investieren. Genau genommen soll der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) für alle dann nur noch einen Euro am Tag kosten. Simple Botschaft: Diesel doof, Bus gut.
In Berlin war Strößenreuther der Kopf des Volksentscheids Fahrrad – und hat so viel Druck auf die Politik ausgeübt, dass die Stadt ihre Fahrradwege jetzt endlich stark ausbauen will. Nun will er „die Bewegung aufnehmen, die der Bund mit seinem Vorschlag ausgelöst hat“.
Ausgelöst hatten die „Bewegung“ ausgerechnet Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD), Verkehrsminister Christian Schmidt (CSU) und Finanzminister Peter Altmaier (CDU). Seit Jahrzehnten reißt Deutschland in vielen Städten die laut EU zulässigen Stickoxidgrenzwerte – deshalb droht der Bundesregierung nun eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Nun schrieben die Minister der EU-Kommission, man solle den Nahverkehr gratis anbieten, um die dieselverseuchte Luft endlich sauberer zu bekommen. Zunächst soll es einen Versuch in fünf Modellstädten geben.
Doch so richtig will die Idee nicht zünden. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund sprach von einem „frommen Wunsch“, selbst der ökologisch gesinnte Verkehrsclub Deutschland sagt, kostenloser Nahverkehr sei „nicht realistisch“, Busse und Bahnen wären sowieso längst heillos überfüllt.
Konsequenter Ausbau des Nahverkehrs nötig
Ähnlich sieht das auch Strößenreuther. Er will aber verhindern, dass die Diskussion verpufft. „Deshalb will ich eine Idee weiterentwickeln, die woanders längst funktioniert.“ Die Rede ist vom Wiener Modell – 1 Euro am Tag für den Nahverkehr. Die österreichische Hauptstadt senkte 2012 den Preis einer Jahreskarte für den ÖPNV von 449 Euro auf 365 Euro. Eigentlich hätte das ein Loch in die Kasse der Bahn reißen müssen.
Doch: Die Stadt verkaufte 2017 780.000 Jahreskarten, mehr als doppelt so viele wie 2011. Die Zahl der Fahrgäste stieg um fast 100 Millionen auf 962 Millionen im Jahr. Die Erlöse aus dem Fahrkartenverkauf sind sogar gestiegen: Von 458 Euro 2011 auf heute 503 Millionen. Damals wie heute deckt der ÖPNV in Wien rund 60 Prozent seiner Kosten selbst. Und die Zahl der Autos hat zwar zugenommen – allerdings ist Wien auch eine der am schnellsten wachsenden Metropolen Europas. Heute gibt es pro Einwohner weniger Pkws als im Jahr 2012.
Der Verkehrsbetrieb „Wiener Linien“ warnt aber davor, die Attraktivität des ÖPNV nur am Preis zu messen. „Wenn Sie 10 Minuten auf eine U-Bahn warten müssen und die dann übervoll und verdreckt ist, dann bringt es auch nichts, wenn man umsonst fährt“, sagt ein Sprecher der taz. Wien baut deshalb seinen Nahverkehr seit Jahrzehnten konsequent aus. „Bei uns schaut niemand auf den Fahrplan, die U-Bahnen kommen in den Stoßzeiten alle drei Minuten“, so der Sprecher.
Noch radikaler waren vor einigen Jahren Pläne von Grünen, Linken und Piraten zur Einführung eines „Bürgertickets“ in Berlin. Der Plan: Eine Art Nahverkehrsabgabe ähnlich den Rundfunkgebühren für alle Berliner in Höhe von 15 Euro; Pendler sollten insgesamt 55 Euro zahlen – statt 80 Euro für ein Monatsticket wie jetzt. Auch dieser Ansatz sollte Kunden vom Auto in Richtung Bus und Bahn weglenken – und die Stadtluft reiner machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Lateinamerika und Syrien
Assads Freunde