piwik no script img

Diego MaradonaEl Diego, der gottgleiche Lausbub

Aufsteiger, begnadeter Fußballer, Rebell, Projektionsfläche, Skandalnudel, tragischer Held: Warum der Trainer Argentiniens der größte Mythos des Fußballs ist.

So sprach Diego der Große: Du sollst keinen anderen Maradona neben mir haben. Bild: ap

Diego Maradona ist Argentinien, Argentinien ist Maradona. Unangefochten ist sein Status als Legende, Nationalheld, Halbgott. Und auch außerhalb Argentiniens gibt es keinen Fußballer, der mehr polarisiert hat, gleichermaßen geliebt und angebetet, verachtet und belächelt wurde.

Was ist es, das ihn zu einem Mythos hat werden lassen? Was gibt er den Argentiniern, dass sie ihn so sehr verehren - trotz all der Entgleisungen, die er sich in den vergangenen drei Jahrzehnten geleistet hat?

Seine Geschichte beginnt wie die vieler Helden: ganz unten, in Villa Fiorito, einem Armenviertel von Buenos Aires. Doch ein sprichwörtlicher Tellerwäscher ist jeder zweite Fußballstar, bei Maradona aber bildet die Aufsteigergeschichte nicht mehr als die erste Schicht des Mythos, nur das erste Kapitel einer nachgerade klassischen Heldenerzählung voll übermenschlicher Taten und menschlicher Abgründe.

Gott und Lausbub

Das erste Mal spielt Maradona, gerade 17 Jahre jung, 1978 diese Rolle, als ihn der große Nationaltrainer César Luis Menotti im letzten Moment aus dem Kader des Nationalteams streicht und ihm so die Möglichkeit nimmt, Weltmeister im eigenen Land zu werden. Maradona weint. Und er wird wütend - eine Wut, die ihm, wie er später sagen wird, zum Motor wird.

Argentinien - Nigeria

Mit Argentinien startet einer der großen Favoriten am Samstag (16 Uhr, ARD) in Johannesburg in die WM. In dem von DFB-Schiedsrichter Wolfgang Stark geleiteten Spiel gegen Nigeria wird sich zeigen, ob die nominell beste Offensive des Turniers ihr Potenzial in Tore und Punkte umsetzen kann. Maradona, der das Training nutzte, mit Zigarre im Mund selbst einige Freistöße in den Winkel zu zirkeln, wird im Angriff wohl mit Messi, Tevez und Higuaín beginnen, Agüero und Milito sitzen zunächst nur auf der Bank. Gerüchte, Messi sei nicht in Form oder gar verletzt, wischte Maradona in den letzten Tagen konsequent beiseite. An seinem Platz in der ersten Elf gibt es ebenso wenig Zweifel wie an dem von Carlos Tevez, Maradonas erklärtem Liebling, der seinem Trainer "Gänsehaut beschert". Den vom Schweden Lars Lagerbäck trainierten Nigerianern fehlt ihr Michael Ballack - John Obi Mikel vom FC Chelsea gehört zu den verletzungsbedingt verhinderten Stars.

Es ist diese Wut, die ihn 1986 durch die Weltmeisterschaft trägt. Seine beiden weltberühmten Tore im Viertelfinale der WM 1986 gegen England - sein irregulärer Handtreffer und sein Dribbling über den halben Platz, bei dem er gleich sieben Gegner stehen ließ - sind, jedes auf seine Weise, Störungen der Normalität. Das Unvorhersehbare, das ein Fußballspiel so ergreifend macht, findet hier seine Vollendung. Und diese Tore sind Sinnbilder der Rolle, die Maradona nach diesen 90 Minuten nie wieder ablegen wird: der einsame Held, der gottbegnadete Künstler, die Skandalnudel. Maradona, der Größenwahnsinnige, der seine Hand zu "Hand Gottes" erklärt, und Maradona, der Lausbub, der alle an der Nase herumführt und sich darüber so freut, wie nur ein kleiner Junge sich freuen kann. Der Fußballer liefert die zweite Schicht des Mythos.

Hinzu kommen die historischen Umstände: 1986 ist Argentinien in einem desolaten Zustand, die Diktatur ist drei Jahre vorbei, die Hyperinflation liegt zwischenzeitlich bei 1.290 Prozent, hinzu kommt die Niederlage gegen England im Falklandkrieg drei Jahre zuvor. Er hat gegen die Regeln gespielt und England ausgespielt. "Auf seine Art hat Diego uns alle gerächt", schreibt die Zeitung Noticias nach dem WM-Spiel. Und Jorge Latana von der Zeitung Pagina 12 fragt lamentierend, ob Argentinien überhaupt dazu in der Lage sei, eine moderne Gesellschaft zu sein, die die Regeln der westeuropäisch-nordamerikanischen Welt befolgt, oder ob es für immer der kleine Junge bleiben werde, der meint, er kann machen, was er will.

Nach dem Sieg über England wird Maradona nicht nur als begnadeter Fußballspieler gefeiert, sondern als Rebell: in den Augen der politischen Rechten als Rebell gegen die Engländer, in den Augen der Linken als Rebell gegen das gesamte westlich-kapitalistische System, das Argentinien so nah an den ökonomischen Abgrund gebracht hatte.

Über das Handspiel sehen die Argentinier generös hinweg. Auch sonst ist 1986 das Jahr des Vergebens und Vergessens: Mit dem "Schlusspunktgesetz" und dem "Gesetz des pflichtmäßigen Gehorsams" wird die juristische Verfolgung der mittleren und unteren Ebenen des Apparats der Militärdiktatur verhindert - trotz der Ermordung von 30.000 Menschen in dieser Ära.

Der Schriftsteller und Sportjournalist Osvaldo Soriano beschreibt Maradona wohlwollend als "dummen jungen Mann, den die Welt und ihre Regeln einen Dreck scheren". Dieses romantische Bild, das vollkommen außer Acht lässt, dass Maradona an seinem Heldentum sehr gut verdiente, hat es geschafft, sich festzusetzen.

Menem und Castro

Ab 1989 wendet sich das Blatt in Argentinien. Mit Carlos Saúl Menem kommt der Peronismus wieder an die Macht, aber mit neuem Profil. Denn Menem steht für die neoliberale Konsolidierung des Landes. Ihm gelingt es, der Inflation ein Ende zu setzen und ein Wirtschaftswachstum zu befördern. Zugleich betreibt er eine Politik der Privatisierung staatlicher Unternehmen und Kürzungen im sozialen Bereich. Es ist eine Politik, die die Nation spaltet, vielleicht sogar mehr, als es die Diktatur getan hat. Menem begnadigt ehemalige Militärs, wird später wegen dubioser Waffengeschäfte angeklagt, schließlich werden ihm Vetternwirtschaft und Korruption nachgewiesen.

Maradona war vor Menem da, aber dessen Antritt als Präsident - der Retter vor der Inflation - und Maradonas goldene Ära fallen zusammen. Und zwar in einem Moment, in dem sich die Gesellschaft nach Rettung sehnt.

Argentinien ist Maradona. Aber Maradona ist längst mehr als Argentinien. Seit er 1987 und erneut 1990 den SSC Neapel zur Meisterschaft und 1989 zum Gewinn des Uefa-Pokals führt, wird er in Neapel und im Süden Italiens ebenso vergöttert wie in seinem Heimatland. Er "spielt virtuos auf der Klaviatur des Gegensatzes zwischen italienischem Norden/italienischem Süden", schreibt der Historiker Pablo Alabarces. Die Szenen aus Neapel, in denen Maradona gefeiert wird, gleichen denen aus Buenos Aires. Und dass man ihn in Mailand hasst, ist ein Grund mehr, ihn im Süden zu lieben.

Als er bei der WM 1990 den Gastgeber Italien im Halbfinale aus dem Turnier schießt - er verwandelt den entscheidenden Elfmeter im Elfmeterschießen -, feiert ihn das Publikum in Neapel trotzdem.

Bereits 1987 reist Maradona zum ersten Mal nach Kuba, um seine Solidarität mit Fidel Castro zu zeigen. Er zeigt sich kickend mit Menem und fordert mit ihm die Todesstrafe für Drogendealer. Maradona hält den Abstand zur Politik, der sich für einen Fußballer gebührt und geht nah genug auf sie zu, um eine größere Rolle als die des Sensationsfußballers einzunehmen. Seine Autobiografie "El Diego - Mein Leben", erschienen im Jahr 2000, widmet er, außer seiner Familie und allen Fußballspielern der Welt, auch Fidel Castro. Und Carlos Menem.

Nach seiner Zeit als Fußballer zeigt er sich öfter mit Castro und lässt sich irgendwann das Konterfei des anderen berühmten argentinischen Popstars und Rebellen, Ernesto Che Guevara, auf die Brust tätowieren.

Das ist die dritte Schicht des Mythos Maradona, der gesellschaftliche Kontext, der ihn und sein Spiel zur Projektionsfläche aller möglichen politischen Konflikte und Ideen werden lässt.

Doch Maschinen werden keine Helden. Maradona ist keine Maschine, er ist fehlbar und angreifbar und das gab ihm die Portion Tragik, die ein wahrer Held braucht. Zweimal wird er im Laufe seiner Karriere vor laufenden Kameras wegen Drogenmissbrauchs abgeführt. Später verfolgt die ganze Welt das Aufblähen des Körpers des einstigen Fußballgottes fassungslos, ebenso die wundersame Wiederkehr nach einer Magenverkleinerung.

Im März 1991 werden Spuren von Kokain in seinem Urin gefunden, er wird für 15 Monate gesperrt und kehrt nach Buenos Aires zurück, wo er festgenommen wird. Die Sperrung in Italien interpretiert seine Jünger als Rache für die WM 1990, die Festnahme in Argentinien als Ablenkungsmanöver der Regierung Menems von ihren krummen Geschäften.

Kokain und Ephedrin

1994 kehrt er in die Nationalmannschaft zurück, was als Comeback des "Retters des Vaterlandes" euphorisch gefeiert wird. Dass er nach dem letzten Vorrundenspiel bei der WM 1994 in den USA positiv auf Ephedrin getestet und folglich aus dem Turnier ausgeschlossen wird, interpretieren argentinische Medien erneut als Verschwörung und tragen Trauer. Die krudesten Theorien kursieren - von der Fifa, der CIA und dem Vatikan waren alle daran beteiligt, den Helden der Nation und damit die Nation selber endgültig zu stürzen. Das Ausscheiden Argentiniens im Achtelfinale tut ein Übriges, um diese Sicht zu erhärten.

Diese Art, aus dem internationalen Fußball auszuscheiden, ist einer der tragischsten Momente seines Lebens. Vor allem außerhalb Argentiniens sieht man in ihm den Spieler, der es nicht geschafft hat, einen würdigen Abschied zu finden. Maradona geht zurück zu seinem Club Boca Juniros, wo er noch vier Jahre ruhmlos und schlecht spielt, ehe er aufhört.

Aber, so schreibt Alabarces: "Wenn es um Maradona geht, ist nie das letzte Wort gesprochen - niemals." Er sollte recht behalten. 2008 wird Maradona überraschend Nationaltrainer. Und natürlich ist auch diese Zeit gespickt mit Erfolg, Tragik und Skandal. Und wie auch immer diese WM verlaufen wird - sie wird, so oder so, seine WM werden. Er ist wieder da. Und er hat seine Wut dabei. Und das in einer durchkomponierten Fifa-Fußballwelt, die, was er verkörpert, nur als Werbeparolen kennt: Leidenschaft, Wut und Tragik.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!