Die unsichtbare Frau

Gemeinhin wird sie nur als Frau ihres Mannes wahrgenommen: Siri Hustvedt, Lebensgefährtin von Paul Auster. Während jedoch die Feuilletons seit seinem neuesten Film „Lulu on the bridge“ von ihrer Auster- Begeisterung Abstand nehmen, wird die amerikanische Autorin zunehmend beachtet. Über weibliches Schreiben und die Schubladen der Literaturkritik sprachen mit ihr  ■ Monika
Scheele und Kolja Mensing

taz: Nervt es Sie, daß in jedem Interview nach Paul Auster gefragt wird?

Siri Hustvedt: Aber nein, was wollen Sie wissen? Das gehört einfach dazu. Es ist allerdings immer das gleiche Schema, und ich antworte auch immer gleich. Eine neue Frage wäre natürlich mal nett. Vielleicht: „Woraus besteht Pauls Frühstück?“

Woraus besteht denn Ihr Frühstück?

Aus Haferflocken.

Und, Verzeihung, das Ihres Mannes?

Paul trinkt Kaffee und raucht eine Zigarre.

Ihr erster Roman ähnelte sehr den Büchern Ihres Mannes: die Sprache, die Art der Konstruktion. „Lily Dahl“ hat sich davon stärker entfernt.

Schon die erste Behauptung stimmt nicht. Wissen Sie, das ist wirklich primitiv! „Die unsichtbare Frau“ war eine Geschichte, die in New York spielte, und alle dachten gleich: Aha, da läuft jemand durch New York, die „Stadt aus Glas“. Aha, die Autorin ist mit Paul Auster verheiratet, und so weiter. Bei „Lily Dahl“ hat das dann nicht mehr funktioniert, weil der Roman in Minnesota spielt. Aber das kann ja wohl kaum die Idee von Literaturkritik sein. Wissen Sie, allein unsere literarischen Vorbilder sind einfach grundverschieden: Paul hat nie Henry James gelesen, der mich sehr beeinflußt hat. Das ganze 19. Jahrhundert ist wichtig für mich, für ihn nicht. Und andersrum ist es genauso: Da sind Joyce und Beckett. Paul hat sich doch geradezu auf Beckett gestürzt, um zu sich selbst zu kommen. Ich mag Beckett auch ganz gerne, aber ich habe mich nie auf diese Art mit ihm auseinandergestzt. Wenn man sich die Konstruktion der Sätze bei Paul und mir ansieht, bemerkt man große Unterschiede. Ich bin sehr an der Parataxe interessiert, an Bewegung und Rhythmus. Bei Paul sind die Sätze dagegen viel geschlossener.

Die Hauptfiguren in Ihren beiden Büchern, Iris Vegan und Lily Dahl, sind nicht wirklich sympathisch. Woran liegt das?

Ich kann das gar nicht finden: Ich mag sie beide sehr gerne. Iris zum Beispiel ist so etwas wie ein Alter ego. Ich habe ihr meinen eigenen Namen gegeben, ihn einfach nur anders herum geschrieben. Aber ich bin nicht daran interessiert, Charaktere zu erschaffen, die nun unbedingt ansprechend sind. Mir geht es darum, bestimmte kulturelle Lügen zu durchbrechen.

Was meinen Sie mit kulturellen Lügen?

Zum Beispiel, daß es so etwas wie ein normales, gewöhnliches, alltägliches, langweiliges Leben gebe. Ich glaube nicht, daß Menschen auf diese Art leben: Niemand sieht sich selbst als gewöhnlich. Wenn man ein paar beliebige Menschen zusammen an einen Tisch setzt – ich wette, jeder einzelne von ihnen hat eine erstaunliche Geschichte zu erzählen. Das ist das wahre Leben. Es ist gerade nicht dieses ausgetrocknete Ding, über das man in den meisten Romanen liest oder das man im Fernsehen oder im Kino vorgeführt bekommt. Menschen sind merkwürdiger als die meisten Fiktionen, die die Kultur produziert. Diese Verzauberung, die in der ganz bodenständigen Wirklichkeit angelegt ist, möchte ich in meinen Büchern einfangen.

Dann wäre Ihre Literatur gar nicht so artifiziell, wie man zunächst denkt, sondern nahe dran am Leben?

Aber natürlich ist meine Literatur artifiziell: Sie ist Kunst. „Die Verzauberung der Lily Dahl“ ist ein komplett artifizielles Buch, und es weist selbst permanent darauf hin. Zum Beispiel heißt die Kleinstadt, in der es spielt, Webster – wie das große englische Wörterbuch. Das sagt dem Leser, daß das Buch die ganze Zeit auf dieser Ebene funktioniert. Aber das schließt doch nicht aus, daß die Kunst etwas ansprechen kann, wovon der Künstler denkt oder fühlt, daß es real ist.

Zu diesen artifiziellen Ebenen gehört die Semiotik. Einer der Charaktere in „Lily Dahl“ räsonniert anhand des Wortes „Mund“ über das Zusammenspiel von Signifikant und Signifikat. Schreiben Sie Konzeptliteratur für gebildete Leser?

Das Buch kann auf verschiedene Arten gelesen werden. Man kann sich zum Beispiel nur für die „story“ interessieren, das Buch auch auf dieser Ebene auf eine bestimmte Art genießen – und die Geschichte kann einem so auch etwas sagen. Aber eben auch anders: Es tauchen verschiedene philosophische Probleme und Fragestellungen auf, Anspielungen, Scherze – entweder versteht man sie oder nicht... Allerdings ist das keine intellektuelle Spielerei: „Lily Dahl“ ist ein organisches Buch, ist aus sich selbst heraus entstanden und gewachsen. Und der Grund dafür, daß bestimmte philosophische Fragestellungen dort auftauchen, ist, daß mir wirklich an diesen Fragen gelegen ist. Ich könnte nicht im nachhinein sagen: „Ich habe die und die Überlegungen angestellt und das dann im Text umgesetzt.“ So schreibe ich nicht. Viele Dinge haben sich einfach aufgedrängt, und ich bin dann bei ihnen geblieben – weil ich das Gefühl hatte, daß sie in die Tiefe gehen. Wie zum Beispiel die Geschichte mit dem Wort „Mund“.

„Lily Dahl“ ist am Monatszyklus der Hauptfigur entlanggeschrieben – und auch sonst kommt viel Blut vor. Warum?

Blut ist schließlich ein Teil der Welt. Vielleicht kann man es so erklären: Ich habe mich in meinem Buch mit verschiedenen Grenzen beschäftigt. Zum Beispiel mit der Grenze zwischen Fiktion und Welt, Illusion und Realität, die tief in Shakespeares „Sommernachtstraum“ und damit auch in meinem Buch angelegt ist – weil dieses Theaterstück ja eine wichtige Rolle in „Lily Dahl“ spielt. Ich glaube, daß diese Grenzen sich auflösen. Ich glaube auch, daß die Begrenzungen des Körpers sich auflösen, und Blut verdeutlicht das doch am besten. Wenn man blutet, öffnet sich der Körper. Es zeigt, daß wir nicht wirklich geschlossen sind in unseren Körpern: Es gibt Öffnungen, wir sind offene Wesen. Wir atmen, wir nehmen Luft auf, wir scheiden aus.

Glauben Sie, daß es so etwas wie „weibliches Schreiben“ gibt?

Schauen Sie mal: (hält ein dickes Psychologiebuch hoch, das neben ihr auf einem Stuhl liegt.) Hier drin handelt ein ganzer Teil nur von den männlichen und weiblichen Kategorien in der Psychoanalyse – und natürlich beteiligt sich jeder Mensch gleichzeitig an beiden Kategorien. Es gibt einfach keinen ausschließlich männlichen oder ausschließlich weiblichen Charakter. Das ist absurd. Jeder existiert doch irgendwo auf dieser Linie, die zwischen den Polen männlich und weiblich gespannt ist. Natürlich gibt es so etwas wie biologische Grundbedingungen – wir leben in Körpern, die entweder männlich oder weiblich sind. Das leugne ich nicht. Auch nicht, daß es Erfahrungen gibt, die an diesen Unterschied geknüpft sind: Mit der Geburt oder der Menstruation haben Frauen nun einmal mehr zu tun als Männer. Aber sogar diese Dinge sind eigentlich für das andere Geschlecht nicht so schwierig nachzuvollziehen. Es kann ja wohl für einen Mann nicht so schwer sein, sich vorzustellen, wie es ist, seine Tage zu haben.

Könnten Sie sich vorstellen, aus der Sicht eines Mannes zu schreiben?

Genau das mache ich zur Zeit. Im Mittelpunkt meines neuen Buches steht ein alter Mann: ein gebürtiger Berliner, der Deutschland 1935 verläßt, nach London geht und dann in den Vereinigten Staaten landet. Die eigentliche Geschichte wird sich dann allerdings erst sehr viel später in New York ereignen. Ich würde allerdings sagen, daß ich nicht wirklich aus der Sicht eines Mannes oder über einen männlichen Charakter schreibe: Ich bin dann dieser Mensch. Ich dachte erst, daß es ein Problem sein würde, in einen ganz anderen Körper zu schlüpfen. Aber ich fühle mich diesem Mann tatsächlich viel näher als irgendeinem anderen Charakter in meinen Büchern.

Schreiben Frauen anders über Erotik als Männer?

Vielleicht. Aber ich glaube auch hier wieder, daß es gefährlich ist, solche Unterschiede gewissermaßen biologisch festzumachen. Okay, weil ich eine Frau bin, bin ich möglicherweise näher an so etwas wie weiblicher Erotik dran. Aber Menschen erleben beide Formen der Erotik: männliche und weibliche, wie unsere Kultur die Kategorien aufgeteilt hat. Ich denke, daß sich eine Frau ganz gut männliche Lust vorstellen oder sich damit sogar identifzieren kann – und umgekehrt.

In welche Kategorie gehört denn die Stripteaseszene zu Beginn von „Lily Dahl“?

In beide. Lily greift zunächst das kulturelle Klischee „Striptease“ auf. Sie leiht sich dieses Klischee gewissermaßen nur aus – und macht diesen Prozeß auch ganz deutlich: „Es waren geborgte Bewegungen...“ Sie verwandelt sich so selbst in ein Objekt – und das funktioniert nur, weil sie sich sich selbst durch die Augen des Malers auf der anderen Straßenseite vorstellt. Dadurch wird sie eins mit dem Beobachter. So ist es doch immer. Man muß sich selbst an der Stelle des anderen vorstellen können, um Erotik erleben zu können. Man muß den anderen und gleichzeitig sich selbst zum Objekt machen. Erotik entsteht nicht einfach aus biologischen Gegebenheiten, sondern ist in die Kultur eingeschrieben. Und normalerweise ist sie auch ein bißchen langweilig, die Tricks oder Techniken sind reichlich simpel: Es gibt gar nicht so viele oder besonders originelle Dinge, die in unserer Kultur mit Erotik in Verbindung gebracht werden.

Hat diese Tatsache auch etwas damit zu tun, daß in Ihren Büchern Erotik immer mit Kunst verknüpft wird – mit Fotografien in der „Unsichtbaren Frau“, mit Gemälden in „Lily Dahl“?

Ja. Neben den bloßen verklammerten Körpern gibt es in der Erotik immer noch eine dritte Dimension: Bilder. Erotik, wenn sie interessant sein soll, funktioniert nicht ohne den Kopf. Darum gibt es in meinen Büchern diese Fotografien oder Gemälde, die eine mediale Funktion haben. Ähnlich sind auch die Schuhe zu verstehen, die Lily bei ihrem Strip anbehält: Nicht als typisch fetischistische Accessoires, sondern als erotisch aufgeladene, aus ihrem Zusammenhang gerissene Objekte. Solche medialen Bilder funktionieren durch bewußte Deplazierung.

Mit „Lily Dahl“ verlassen Sie New York und schreiben eine typische, amerikanische Kleinstadtgeschichte. Wie verhalten Sie sich zu diesem Topos der amerikanischen Literatur?

Na ja, mein Buch ist keine „typische Kleinstadtgeschichte“, oder? Die Kleinstadt ist typisch, nicht der Roman. Dieses Webster ist eine mythische Version meiner Heimatstadt Northfield, Minnesota. Dort gibt es zum Beispiel ein „Ideal Café“, wo auch diese beiden superdreckigen Brüder, die in meinem Roman auftauchen, zum Essen hingehen. Verschiedene Dinge habe ich direkt aus der dortigen Zeitung und aus Polizeiberichten übernommen: Die Geschichte von dem Jungen, der lebendig begraben wird, ist so eine Geschichte aus meiner Stadt. Auch der Selbstmord am Ende des Buches.

Also eine Art Realismus wie in „Main Street“ von Sinclair Lewis?

Aber mein Buch ist nicht in diesem Sinne realistisch oder naturalistisch wie „Main Street“. Es gibt ähnliche Themen, wie Klatsch und Tratsch, aber es ist doch so: Wenn man „Main Street“ gelesen hat, haßt man die Stadt, die im Mittelpunkt des Romans steht. Für Lily Dahls Webster dagegen habe ich ganz zärtliche Gefühle. Meine Charaktere sind ja auch beispielsweise nicht böse, sondern eher tragisch.

Kolja Mensing, 28, freier Autor aus Berlin, schreibt vor allem über Literatur

Monika Scheele, 26, Literaturwissenschaftlerin, lebt in Chicago