Die taz über die taz: Die bürgerliche Alternative

Die taz sei "insgeheim schon immer eine bürgerliche Zeitung" gewesen, schreibt Jörg Magenau in seinem Buch "Die taz - Eine Zeitung als Lebensform". Tatsächlich? Ein Essay.

Wir sind anders als die anderen Anderen: Redaktionskonferenz Mitte der Achtziger Jahre. Bild: Günter Zint

Die taz enthält das Zeug zu einer Abenteuer- und Dramengeschichte der deutschen Gesellschaft seit den Siebzigerjahren. Ist es das Drama der "bürgerlichen Gesellschaft" in Deutschland? Jörg Magenau sticht mit seiner These, "die taz () sei insgeheim immer schon () eine bürgerliche Zeitung" gewesen, in das Selbstverständnis der taz. In jedem Fall spart er in seiner taz-Geschichte nicht mit der Fülle von Dramen und Dramoletten einer "Gegenöffentlichkeit", in der es den Redakteuren und Lesern immer erneut bis zur Erschöpfung um das richtig zu lebende Leben ging und geht. Das ist historiografisch geschickt gemacht, insofern er sich in 14 Kapiteln von jeweiligen Stichtagen der Zeitungsgeschichte aus in verschiedene thematische Felder bewegt. So kann er innerhalb einer Chronologie systematisch das ganze thematische Spektrum der taz durcherzählen und zugleich Baustein um Baustein für seine These gewinnen.

Alles kommt in Magenaus Buch ("Die taz - Eine Zeitung als Lebensform", Hanser Verlag, 280 S., 21,50 Euro) nach und nach zur Sprache: das Jahr 1977 als der "historische Nukleus" für die Entstehung der taz im Jahr 1979. Die folgenreiche Entscheidung für Westberlin (statt für Frankfurt), damals der "merkwürdige Sonderfall einer Stadt ohne eigenes Bürgertum" (wichtig für die Entscheidung war allerdings auch die Berlinförderung). Zur Sprache kommen die verschiedenen gesellschaftlichen "Großströmungen", die sich in der taz ihr Organ der Gegenöffentlichkeit schaffen wollen: die Häuserbesetzerszene, die Friedensbewegung, die Ökologiebewegung, die Frauenbewegung.

Das tägliche Machen der Zeitung ist verknüpft mit endlosen Gesellschaftsdebatten, in die mehr als anderswo die Suchbewegungen der Subjekte verwickelt sind. Magenaus Befragungen ehemaliger taz-Redakteure lassen deutlich werden, wie sehr das alles gelebtes Leben war, aufregendes, anstrengendes Leben der Schreiber und Leser, die durch die Wendungen und Windungen ihrer Tagesdosis taz schmerzhafte Häutungen erfahren mussten.

Angesichts der tatsächlichen Auflagenhöhe mag der intern doch angepeilte Wettbewerb mit der hochbürgerlichen FAZ einerseits, der populistischen Bild andererseits vermessen geblieben sein, charakteristisch bleibt der Doppelanspruch: eine intellektuelle "Alternative" zur Frankfurter Allgemeinen zu bilden (wozu die frühe publizistische Aneignung der französischen Poststrukturalisten gehörte), aber zugleich durch das popkulturelle Substrat, mit dem Szenejargon, dem ironisch-frotzelnden Ton, dem leidenschaftlichen Sinn für die Pointe der Schlagzeile eine massenkulturelle "Alternative" zur Springer-Zeitung bilden zu können. So weit wird Magenaus blendend erzählte Geschichte als problemlose Selbstverständigung der taz-Generationen funktionieren. Am Schluss berichtet er dann - distanziert - über das Projekt der taz, sich eine Eigengeschichte zu schreiben: Im geschichtspolitischen Projekt, die zum eigenen Zeitungshaus führende Straße im alten Zeitungsviertel Berlins in Rudi-Dutschke-Straße umzubenennen, soll die taz als "alternative Öffentlichkeit" in der linken Bewegung verortet erscheinen.

Im Gegenzug zu dieser Eigengeschichte sticht Magenaus Geschichtsdarstellung der taz dadurch hervor, dass er eben von Beginn an eine soziologische Fremdbeobachtung einbaut, eine kontraintuitive These: "die taz () sei insgeheim schon immer () eine bürgerliche Zeitung" gewesen, eine "bürgerliche Zeitung mit modernisierender Wirkung." Darüber wird man streiten können.

Magenau hat bei seiner These von der taz als Organ "alternativer Bürgerlichkeit" Theorieglück, insofern seine soziologische Fremdbeobachtung zu der seit einiger Zeit diskutierten soziologischen Theorie bürgerlicher Gesellschaft aufschließt. Diese soziologische Theorie knüpft gegenwartsdiagnostisch an die im 20. Jahrhundert unwahrscheinliche Fortexistenz bürgerlicher Vergesellschaftung an. In dieser verschränken sich drei nicht aufeinander rückführbaren Strukturmomente: das kapitalistische Privateigentum und die Bourgeoisie, das kritisch-kreative Bildungsbürgertum und die in Vereinen, Genossenschaften und Assoziationen sich hervorwagende Zivilgesellschaft. Soziologisch gesehen ist diese bürgerliche Gesellschaft (von der der Kapitalismus nur ein Strukturmoment unter anderen ist) keine geschichtsphilosophische Notwendigkeit mehr; ihre Kontingenz, die Realmöglichkeit nichtbürgerlicher Modernen, in denen es aus ist mit den bürgerlichen Prinzipien, ist seit dem 20. Jahrhundert bekannt.

Soziologisch sind aber Bedingungen bürgerlicher Gesellschaft in der Moderne sehr wohl beobachtbar. Für seine These von der taz als einer von Beginn an "bürgerlichen Zeitung" nimmt Magenau die Tatsache, dass die meisten Akteure aus der Mittelschicht stammten, zunächst nur als ein Indiz. Erhellender ist, dass er den "programmatischen Individualismus", der die Redakteure wie die Leserschaft kennzeichnete, dem auf individualisierte Selbst- und Weltdurchdringung erpichten Bildungsbürgertum zurechnet. Dieser "programmatische Individualismus" unterschied die taz - bei allen Solidaritätsgesten - innerhalb der linken Bewegung penetrant von deren organisatorischen Solidaritätszwängen.

Selbstverständlich ist die taz kein auf Profit angelegtes kapitalistisches Unternehmen gewesen. Aber niemandem dürfte entgehen, dass ihre Leserschaft - parallel zu der Mitglieder- und Wählerschaft der Grünen - sich mittlerweile zu einem erheblichen Teil aus dem Mittelstand, ja aus Selbstständigen rekrutiert, die die Nöte und Chancen der Kapitalverwertung spätestens bei selbst erworbenem Grund- und Hauseigentum, der Erbschaft oder dem Gründungskredit verinnerlichen. Diese Klientel erklärt überhaupt die Möglichkeit des Genossenschaftsmodells, in dem die taz schließlich eine ökonomisch-rechtliche Form gewann. Und dieses Genossenschaftsmodell ist wiederum die Auskristallisation der Zivilgesellschaft, für das die taz als Kreuzungspunkt einer Vielzahl spontan gebildeter Assoziationen von Beginn an stand.

Mit Magenaus Rückversetzung der taz in die Konditionen der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich schon einiges an dieser Zeitung besser als bisher verstehen. Man kann seine These von der taz als "alternativer Bürgerlichkeit" aber noch etwas tiefer verstehen, als er das im Buch selbst vorführt. So gesehen, wäre die taz zu Beginn eindeutig als "Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft" aufgetreten, und zwar als Alternative im Sinn des Entweder-oder, das die linke Bewegung kennzeichnet: wir oder die bürgerliche Gesellschaft. Mindestens so prägend aber ist gewesen, dass die taz in ihrer publizistischen Entwicklung zugleich immer wieder als die "bürgerliche Alternative" aufgetreten ist. Indem sie in Auseinandersetzung an vorderster Front alternativ (z. B. im Verhältnis zur linken Bewegung) bürgerliche Positionen vertreten hat - auch wenn sie das nicht so genannt hat.

Auch Magenau benutzt den Begriff "bürgerliche Alternative" nicht, aber sein Buch schildert diese Wendepunkte markant. Eine "bürgerliche Alternative" bildete die taz nämlich in der Auseinandersetzung mit der RAF, als sie den Brief der von Braunmühls an die "Mörder unseres Bruders" prominent abdruckte. Damit machte sie sich gemein mit der bürgerlichen Aufforderung, nicht länger öffentliche Rollenträger als "Charaktermasken" abzuschießen, sondern zur zivilisierten Tötungshemmung zurückzukehren und den tiefen Vorbehalt gegen die bürgerliche Gesellschaft in der Manier dieser Zivilgesellschaft selbst anzulegen und zu raffinieren. Das war "der Anfang vom Ende der RAF", wie Magenau trocken bemerkt.

Und eine "bürgerliche Alternative" bildete die taz seit ihrer Gründung - eben von Westberlin aus - gegenüber dem Realsozialismus. Die taz stand ja vor Ort auch im indirekten Wettbewerb mit dem Neuen Deutschland und hatte mit ihrer raschen publizistischen Förderung der zivilgesellschaftlichen Regungen in der DDR und in Osteuropa bereits früh an der Kernzone einer neu riskierten bürgerlichen Vergesellschaftung teil. Spätestens 1989/90 standen sich die taz - als vitale Inkarnation westlicher Zivilgesellschaft - und die ostmitteleuropäischen "Bürgerbewegungen" im Verhältnis sich befeuernder Spiegelneuronen gegenüber. Vor dem Hintergrund der zivilgesellschaftlichen Durchbrüche, die inmitten des Realsozialismus Kernkonditionen bürgerlicher Gesellschaft wiederherstellten, muss sich die taz als Organ der Bürgerlichkeit geahnt und erkannt haben - als originelles Medium "alternativer Bürgerlichkeit". Wobei Alternative aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr das Entweder-oder meint, sondern die kritisch-kreative Erweiterung der bisherigen Bürgerlichkeit um bisher nicht gekannte Lebens- und Denkmöglichkeiten, die aber eben nicht zur Dekonstruktion oder Auslöschung der Bürgerlichkeit insgesamt führen.

Man kann das Spiel der Begriffe auf den Punkt bringen: In der "alternativen Bürgerlichkeit", so lässt sich Magenaus Geschichte der taz verstehen, kreuzen sich zwei Tendenzen: die "Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft" mit der "bürgerlichen Alternative". Erstere bleibt bewahrt in der publizistischen Gestalt des Dauerverdachts der bürgerlichen Gesellschaft gegen sich selbst, ob sie das richtige Leben sei; Letztere schärft öffentlich gegenüber allen Fundamentalismen die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaften als Minimum moderner Fortexistenz. Man kann diesen Generator "alternative Bürgerlichkeit", diese Bereicherung der Bürgerlichkeit um "Alternativen" beziehungsweise des Hineinholens der bisher Ausgeschlossenen in die "Bürgerlichkeit" am Schicksal der die taz tragenden Bewegungen sehen: Die Häuserbesetzerszene hat nicht zur Auflösung des Privateigentums an Grund und Boden in der Stadt geführt, aber zu einer überraschenden Restitution des Anschauungskerns der europäischen Stadt, in denen sich die bürgerliche Gesellschaft kreativ über ihre eigenen Ursprünge zurückbeugt. Die Ökologiebewegung hat nicht zur politischen Naturdiktatur im Interesse der Gattung geführt, aber sie hat die Erhaltung der Natur und der Gattung im Generationenprojekt - ursprünglich rechte Themen - erstmals zum prominentesten Zukunftsthema der sich selbst organisierenden bürgerlichen Gesellschaft gemacht.

Und die Frauenbewegung? Sie hat - auch über die taz - sehr viel für die Frauen, aber nichts an den Prinzipien bürgerlicher Vergesellschaftung verändert: riskantes Privateigentum, riskante Bildungsprozesse der Individuen, riskante, weil selbst verantwortete Assoziationen. Frauen sind heute - bis in die Chefredaktion der taz - die Karyatiden der bürgerlichen Gesellschaft, auf deren Balkonen sie zugleich stehen. Sie bilden jetzt die schöpferische Massenbasis dieser bürgerlichen Gesellschaft, ihren innersten Affirmationskern - "alternative Bürgerlichkeit".

Der Autor lehrt Soziologie an der Technischen Universität Dresden.

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