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Die steile TheseAugenhöhe ist keine Frage der Größe

Gastkommentar von Saioa Alvarez Ruiz

Saioa Alvarez Ruiz ist kleinwüchsig. Bei der Arbeit will sie einen tieferen Bürotisch. Denn auf Augenhöhe zu sein, ist eine Frage der inneren Haltung.

„Viele wollen auf Augenhöhe sein, aber verstehen nicht, was das heißt“, sagt Saioa Alvarez Ruiz Foto: Stefanie Bischoff

I ch bin kleinwüchsig. Viele fragen mich, ob es in Ordnung sei, wenn sie in die Hocke gehen oder sich hinsetzen, um mit mir zu sprechen – auf Augenhöhe.

Ich sage dazu: Es ist mir egal. Natürlich ist es gelegentlich ganz schön, Augen aus nächster Nähe zu betrachten. Doch machen es großwüchsige Menschen falsch, wenn sie aufrecht stehen bleiben und aus der Entfernung mit mir sprechen? Nein. Falsch wäre nur zu glauben, dass sie mir dadurch überlegen sein könnten. So, wie es mein Berater der Agentur für Arbeit versteht.

Nach meiner Freiberuflichkeit bin ich seit einem Jahr in einem Büro angestellt. Meine Kolleginnen und Kollegen haben große Schreibtische. Es sind Serienmodelle von der Stange, man könnte sie auch durchschnittlich oder Standard nennen. Ich selbst habe mich für einen tieferen Bürotisch entschieden. Ich bin schließlich kleiner.

Ein Mann mit Kleidergröße 50 kauft sich auch keine Hose in Größe 58. Und andersherum ließe sich wohl kaum ein Mann mit Kleidergröße 58 von einer Hose in 50 überzeugen (obwohl es die für Männer durchschnittliche Konfektionsgröße ist). An meinem Schreibtisch muss nur ich allein arbeiten können, daher soll er meinen Körpermaßen entsprechen. Klingt selbstverständlich, doch der Weg dorthin ist es nicht.

Saioa Alvarez Ruiz

29, ist freie Theaterpädagogin, Performerin und Referentin für kulturelle Bildung bei Jugend im Museum e. V. in Berlin.

Prinzipiell ist die Sache so: Menschen mit Behinderung stehen sogenannte Arbeitshilfen zu, die sie arbeitsfähig machen sollen. Den entsprechenden Antrag auf Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben stelle ich als Angestellte bei der Bundesagentur für Arbeit. Wenn also die Schreibtische an meinem Arbeitsplatz für mich nicht geeignet sind, dann kümmere ich mich eigenständig um eine alternative Lösung, und die Kosten dafür werden übernommen.

Kein Autoritätsproblem

An diesem Prozedere sind einige „Sachverständige“ beteiligt, darunter mein technischer Berater – sie alle glauben zu wissen, was das Beste für mich sei, und entscheiden mit. Als ich schließlich den Kostenvoranschlag für meinen zukünftigen Bürotisch einreiche, ruft wenige Tage später mein technischer Berater der Agentur für Arbeit an: „Wieso bestellen Sie einen so tiefen Tisch?“ Er hatte mich schon mal gesehen, ich verstehe daher seine Frage nicht. Ich sage: „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“ Er präzisiert: „Das sieht doch dann aus wie im Kindergarten!“

Ich muss Luft holen. Sorgt er sich um die Ästhetik unseres Büros? Oder ist er bekümmert, dass meine Kolleginnen und Kollegen mich für ein Kind halten könnten?

Dem Ästheten antworte ich, dass es um eine Sehgewohnheit geht, die erlernt und somit formbar ist. Wenn wir verschiedene Tischhöhen (und Körpergrößen) nicht gewohnt sind, sollten wir unsere Sehgewohnheit erweitern und uns nicht darauf versteifen, dass alle Tische (und Menschen) gleich auszusehen hätten.

Dem um meine Autorität Besorgten antworte ich: Dass Größe nicht automatisch mit Alter gleichgesetzt werden kann, hat bereits meine zweijährige Nichte verstanden. Sie weiß, ihre Tante ist klein, geht aber nicht in ihren Kindergarten. Sie schließt daraus: Ihre Tante ist klein, aber kein Kind. Wenn meiner Nichte diese nicht allzu komplexe Differenzierung gelingt, wieso sollte ein tieferer Bürotisch dann bei meinen Kolleginnen und Kollegen zu Verwirrung führen?

Ich bin eine Frau mit zwei Studienabschlüssen und einem Job – ich gehe nicht in den Kindergarten. Auf meinem Bürotisch steht keine Murmelbahn, sondern Computer und Telefon. Wie könnte da der Hauch einer Verwirrung aufkommen?

Dennoch hält es der technische Berater für sinnvoller, wenn ich auf einem elektrisch höhenverstellbaren Stuhl arbeiten würde, der mich an die viel zu hohen Serienmodelle im Büro anpasste. Das wäre dann so: Jedes Mal, wenn mich eine Kollegin im Büro zu sich ruft, bitte ich sie um Geduld, bis meine Füße wieder sicher auf der Erde angekommen sind (einige von uns wissen, in welchem Schneckentempo Reha-Hilfsmittel, etwa Treppenlifte, sich fortbewegen).

Es geht auch anders

Nach der Besprechung mit meiner Kollegin setze ich mich zurück an meinen Platz und warte wieder, bis der Stuhl die Höhe des viel zu hohen Tisches erreicht hat – und das bei jedem Gang, ob Besprechung, Druckauftrag, Toilette, zigmal am Tag.

Ich weiß, dass viele meiner kleiner gewachsenen Kolleg*innen auf der Welt das tatsächlich so machen. Sie werden ihre persönlichen und professionellen Gründe dafür haben, und ich achte ihre Entscheidung mit vollem Respekt. Aber es geht auch anders.

Ich möchte diejenigen ermutigen, die noch nicht die Idee, Durchsetzungskraft oder Geduld hatten, ihre Tische in der eigenen Höhe zu wählen – weil sie vielleicht einen ähnlichen technischen Berater wie ich hatten oder Menschen mit vergleichbar unausgereifter Beratungsexpertise begegnet sind.

Viele Menschen wollen mit anderen auf Augenhöhe sein, aber sie verstehen nicht, was das heißt. Ich fordere eine diskriminierungskritische Weiterbildung für Angestellte der Agentur für Arbeit, insbesondere der Reha-Abteilung, um Benachteiligung und Beleidigung ihrer Kund*innen mit Behinderung zu vermeiden – auch um meine Energie und Zeit nicht zu verschwenden, die ich auf meine eigentliche Arbeit verwenden sollte.

Mein Bürotisch und andere Dinge, die mir Arbeitshilfen sein sollten, sind zunächst unbezahlte Mühen, unzählige E-Mails, Telefonate, Recherchen, Verhandlungen, Rechtfertigungen, begleitet von ständiger Bevormundung.

Ob nun jemand in die Hocke geht, um mir eine Notiz auf meinem Bürotisch zu hinterlassen, oder ob eine Person auf ihrer eigenen Höhe bleibt, um mit mir zu sprechen: Ich fühle mich nicht unterlegen. Ich fühle mich nicht schwach. Natürlich gibt es größer gewachsene Menschen, die ihre Körpergröße mit Überlegenheit verwechseln.

Doch dagegen hilft es wenig, wenn ich mich auf einen Stuhl setze und warte, bis dieser mich künstlich größer macht. Dagegen habe ich klügere Strategien, denn permanent unterschätzt zu werden hat wenig Vorteile, doch sicherlich einen: selbst die Expertin darin zu werden, auf Augenhöhe zu arbeiten. Augenhöhe ist keine Frage der Körpergröße, sondern der Haltung. Ich trainiere sie tagtäglich. Und Sie?

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4 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Hallo Frau Alvarez Ruiz,



    ich finde die Klarheit Ihres Artikels sehr beeindruckend, darum habe ich ihn kurz auf der Webseite des Netzwerkes von und für Akademiker*innen mit Behinderung (iXNet) vorgestellt und einen Link zu dem Artikel gesetzt.



    ixnet-projekt.de/i...128cf756c198787eb2



    Ich hoffe, das ist für Sie in Ordnung. Wenn nicht, melden Sie sich bitte bei mir über die angegebene Homepage.

  • Ja, geistige Größe verhält sich mitunter auch gegensätzlich proportional zur Körpergröße, aber egozentrisch narzissten die denken, sie könnten Natur, Umwelt und Menschen frei nach ihrem Weltbild und Festlegungen wählen gab es sicher schon in erschrecklicher Menge vor der ersten Sprache.

  • Großartiger Text, vielen Dank! Ich habe, wenn auch in ganz anderem Kontext, ähnliche Erfahrungen gemacht. Leider scheinen die Mitarbeiter*innen der Arbeitsagentur nur für den absoluten Normfall ausgebildet zu sein, der - nach meiner Einschätzung - wahrscheinlich nicht einmal die Regel ist... wie paradox.

  • Bravo! Tägliches Training zahlt sich offenbar aus. Auch, wenn es nicht in einer „Muckibude“ absolviert wird. Von so viel Augenhöhe könnte sich manche*r lang gewachsene*r Kolleg*in und auch sonst manch ein anderer Mensch eine ganze Scheibe abschneiden, ohne dass Saioa Alvarez Ruiz auch nur ein My kleiner würde.

    Die Frage ist nur, wieso (denk-)faule Menschen sich Mühe geben sollten, wenn sie ihr Leben bloß von der Stange zu kaufen brauchen, um es leicht zu haben - und Eindruck zu erwecken bei ihren nicht weniger (denk-)faulen Vorgesetzten.