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■ Die neue „ethische Außenpolitik“ des Westens: Die Würde der Menschen wird verteidigt, wenn es den eigenen Interessen dientPutin ist Milosevic

Jelzin verletzt Menschenrechte, auch wenn er weder Bart noch Drillich trägt

Die Heuchelei ist perfekt. Die von Clinton, Blair, Chirac, Scharping, Fischer und Co. beschworene „ethische Außenpolitik“ gilt nur manchmal, nur teilweise und nur geografisch begrenzt. Je nachdem welche Punkte man beim einheimischen Publikum damit machen kann. Die Würde des Menschen ist nicht unteilbar, sondern alles hängt davon ab, mit wem man befreundet ist. Oder wie einfach das Problem zu lösen ist.

Die Rettung der Kosovo-Albaner, direkt vor Europas Haustür, war populär. Auch das ferne Osttimor verdiente westliche Einmischung, denn das Problem war überschaubar und preiswert zu lösen. Aber zu Tschetschenien wird wieder einmal geschwiegen. Der mörderische Luftkrieg, die Entvölkerung der kleinen Kaukasusrepublik werden im Westen mit besorgtem Stirnrunzeln quittiert, mehr nicht. Kein Aufschrei, als letzte Woche ein Bus voller Frauen und Kinder in Flammen aufging, beschossen von der russischen Artillerie: Die neue „ethische Außenpolitik“ unterscheidet in Opfer erster und zweiter Klasse. Das erste Standardargument lautet: „Wir mussten ja einmal damit anfangen“ – siehe Kosovo. Das zweite Standardargument: „Wir können ja nicht alles Unrecht beheben“ – siehe Tschetschenien. Zwei Haltungen und kein Rückgrat. Von der neuen „ethischen Außenpolitik“ bleibt der alte politische Opportunismus übrig.

Die Geschichte wiederholt sich geradezu albtraumhaft. Im Dezember 1994 bereitete der Kreml den Einmarsch nach Tschetschenien vor, um ein für alle Mal mit Banditentum und Separatisten aufzuräumen. Der von Finanzkrisen und politischen Skandalen gebeutelte Boris Jelzin versuchte, mit einer Politik der Stärke von seiner innenpolitischen Schwäche abzulenken. Ein „kleiner, siegreicher Krieg“ gegen die unheimlichen Tschetschenen sollte seine Macht konsolidieren.

Gleichzeitig schaffte er es, den durchaus gut unterrichteten Westen zum Wegschauen zu bewegen. Damals wie heute war es einfach, die Kaukausrepublik als Verbrecherparadies anzuprangern. Brutalste Entführungen, Morde an westlichen Ingenieuren und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen – ein Zustand absoluter Gesetzlosigkeit. Der Ruf der rebellischen Tschetschenen wurde zerrüttet. Doch dass diese Kriminalitätswelle direkt mit Arbeitslosigkeit, kaputtgebombten Fabriken und einer Abriegelung der verwüsteten Republik zusammenhängt, wird unterschlagen. Derweil rücken die Russen zusammen, vergessen zeitweilig Wirtschaftskrise und den Sumpf von Korruption oder Skandalen. Die Hetze gegen den Erzfeind aus dem Kaukasus funktioniert: Alle Tschetschenen sollen bestraft werden.

Die Alten und Kinder, die vor russischen Bomben fliehen, verstehen vor allem aber eines nicht: Warum setzen westliche Politiker der russischen Stimmungsmache nichts entgegen? Aus Ignoranz, Eigeninteresse oder Feigheit?

Russland vergleicht die aktuellen Luftangriffe mit der Nato-Kampagne im Kosovo und ahmt sogar die Briefings von Brüssel nach. Von der Nato abgeguckt ist auch die Idee der Schutzzone, die nördlich des Flusses Terek entstehen soll und eines Protektorats, wenn auch von einem russischen Generalgouverneur verwaltet. Das ist die Kolonialpolitik der Zaren. Dagegen lässt Stalin bei folgender Idee grüßen: Die in Inguschetien gestrandeten Flüchtlinge sollen in die Terek-Region zwangsumgesiedelt werden. Was sagen die Menschenrechtler dazu? Was die kritischen Medien? Moskau hat den Wert von Medienschlachten erkannt. Der Feind wird dämonisiert, der Konflikt personalisiert. War es im Frühjahr Bill gegen Slobo, ist es jetzt Kronprinz Putin gegen die Warlords Bassajew und Chattab. Russland – Bastion der Zivilisation gegen die Barbarei der Fundamentalisten. Der russische Ministerpräsident will mit solchen Verkürzungen westliches Verständnis wecken, doch bis heute hat er nicht einen einzigen Beweis geliefert, dass tatsächlich Tschetschenen die Urheber der Bombenattentate in russischen Städten waren, die hunderte Unschuldige töteten.

Die einfachste Frage ist bis heute unbeantwortet: Wem nutzten diese Attentate? Den einfachen Tschetschenen gewiss nicht, den Einzelgängern Bassajew und Chattab auch nicht. Vielleicht aber russischen Wahlkampfmanagern und Geldwäschern, die von ihren eigenen Machenschaften ablenken wollen.

Die Logik der russischen Generäle und Politiker ist klar: Wenn die Nato in Ex-Jugoslawien ihre Strategie durchsetzen durfte ohne Rücksicht auf Russlands Interessen, so darf Russland dasselbe mit Tschetschenien tun. Der Sprecher des US-Außenministeriums, James Rubin, wehrte schwach ab: „Das ist eine schwachsinnige und lächerliche Analogie, sowohl dem Inhalt als auch der Form nach.“ Er hätte lieber hinzufügen sollen, dass bei dieser schrägen Analogie die Akteure vertauscht werden müssen: Putin ist Miloševic. Der Thronfolger hat die Streitkräfte losgeschickt, um mit rechtswidrigen Methoden eine verhasste Minderheit aus ihrem Land zu vertreiben und gleichzeitig die eigene Stellung zu festigen für die kommenden Wahlen.

Die Nato, jüngst noch bewaffneter Arm von amnesty international, lässt nichts von sich hören, um ein Volk zu verteidigen, das zum zweiten Mal innerhalb von fünf Jahren vertrieben und bombardiert wird. „Innere Angelegenheiten“ Jelzins sind eben tabu, ganz anders als die „inneren Angelegenheiten“ des Despoten Miloševic. Die USA und Europa brauchen den guten Willen der Russen. Und mischen sich nur in einem Punkt kräftig in den zweiten Tschetschenienkrieg ein: Sie schicken weiterhin Dollarmillionen nach Moskau.

Nun steht eine neue OSZE-Konferenz in Istanbul bevor. Vielleicht könnten Außenminister Fischer und seine Kollegen vorher lesen, welches OSZE-Dokument Boris Jelzin vor fünf Jahren in Budapest unterschrieb.

Im Kosovo war die Nato der bewaffnete Arm von amnesty international

„In Fällen, in denen zur Erfüllung von Aufgaben der inneren Sicherheit ein Rückgriff auf Gewalt nicht vermieden werden kann, wird jeder Teilnehmerstaat gewährleisten, dass der Einsatz von Gewalt verhältnismäßig sein muss. Die Streitkräfte sind angehalten, Schaden von Zivilisten und ihrem Eigentum abzuwenden.“

In Klartext: Es gehört sich nicht, die eigene Bevölkerung in die Steinzeit zurückzubomben. Wenige Tage nach der Konferenz brach der Kreml das Abkommen, was mindestens 80.000 Menschen das Leben kostete.

Die „ethische Außenpolitik“ wird auch in Istanbul an Heuchelei und „Realpolitik“ scheitern. Denn dort müsste man zugeben: Terroristen und Menschenrechtsverletzer sitzen auch in Moskau, auch wenn sie nicht Drillich und Bärte tragen. Und wir sind ihre besten Freunde. Sonia Mikich

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