piwik no script img

Die kapitalisierten Kids

Die Shell-Studie über die deutschen Jugendlichen ist ein erschreckendes Zeugnis: Sie zeigt eine auf Leistung getrimmte Generation, die keine Alternative zum Erfolg kennt – außer: „tolles Aussehen“

Die deutsche Frühselektion züchtet Bildungsgewinner und -verlierer heran

von SEBASTIAN SEDLMAYR

Ideologiefern sollen die Jugendlichen heute sein. So interpretieren die Autoren und Herausgeber der 14. Shell-Studie die Antworten der Befragten im Alter von 12 bis 25 Jahren. Das Gegenteil ist der Fall.

Der totale Markt hat die Nachwachsenden zwölf Jahre nach dem vorläufigen Sieg des Kapitalismus vereinnahmt. Selbst in aussichtsloser Situation rebellieren sie nicht, sondern versuchen, „nach oben“ zu kommen. Die „Ich-AG“ muss diesen Jugendlichen nicht mehr indoktriniert werden. Sie legen ohnehin mehr Wert auf Selbstorganisation als auf gesamtgesellschaftliche Lösungen.

Um irgendwann oben zu schwimmen, strampeln sie sich ab bis zur Selbstverleugnung: Nur gut ein Drittel der SchülerInnen geht gerne zur Schule. Doch trotz mieser Jahre in der Penne wird weitergeackert: Die Jugendlichen in Deutschland wollen sich qualifizieren, um ihre Chancen auf einen „guten Job“ zu vergrößern.

Fast die Hälfte der Befragten strebt das Abitur an. Bei den HauptschülerInnen will mehr als ein Drittel die mittlere Reife oder einen höheren Abschluss erlangen. Auf Platz zwei der als „in“ bezeichneten Inhalte steht mit 82 Prozent die „Karriere“ – übertroffen nur noch von: „tollem Aussehen“. 88 Prozent wählen das Ideal der Schönheit auf Platz eins.

Ganz unten auf der In-Liste rangieren mit 25 Prozent Drogen. Trotzdem ist der Blick auf die Möglichkeit vernebelt, die eigene Lage nicht mit ökonomischer, sondern mit politischer Leistung zu verbessern: „Bürgerinitiativen“ und „sich in Politik einmischen“ finden nur 26 bzw. 25 Prozent der Jugendlichen „in“.

Obwohl die wirtschaftliche Situation keine goldenen Zeiten verheißt, strotzen die Jugendlichen vor Optimismus: Fast 70 Prozent sind sicher oder „eher sicher“, dass ihre beruflichen Wünsche in Erfüllung gehen. Selbst in der Unterschicht sind noch 57 Prozent überzeugt von der Erlangung ihres Traumjobs.

Gerade in der Unterschicht wird dem jugendlichen Enthusiasmus ein böses Erwachen folgen. Denn die Schere zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern öffnet sich der Studie zufolge weiter. Und auf welcher Seite die Kinder stehen, hängt nicht so sehr von ihrer Leistungsbereitschaft, sondern hauptsächlich von ihrer sozialen Herkunft ab. Schon heute müssen insgesamt 36 Prozent der Unterschicht damit leben, dass zu schlechte Noten ihnen den Traumjob verwehrt haben. Die viel versprechendsten Aussichten haben Oberschichtkinder aus dem Westen. Aus der Oberschicht gehen insgesamt 65 Prozent aufs Gymnasium. Die Unterschicht hingegen findet ihre Kinder zur Hälfte in der Hauptschule wieder.

Kaum verwunderlich, dass angesichts dieser Ungleichheit die Frustration in den unteren Bildungs- und Gesellschaftsschichten wächst. Die Bildungsverlierer haben wegen fehlender Anleitung zum Erfolgreichsein nicht das nötige Werkzeug zur Hand, das ihnen ermöglichen würde, aus der Schicht- und Bildungsfalle zu entkommen. Von wegen durchlässiges Bildungssystem. In den Haupt- und Sonderschulen baden die Sozialhilfekinder und Frisörstöchter in der eigenen Suppe ungenügender Förderung und schlagen sich mit überforderten Lehrern herum. Hätte diese in einer Rolle rückwärts erstarrte Gruppe die Fähigkeit erlernt, sich zu organisieren und ihre Interessen klar zu artikulieren, müsste sie nicht mehr hoffen, eines Tages „aufzusteigen“ und einen höheren Abschluss auf einer anderen Schule zu machen sie würden Druck auf die dreigliedrige Schule ausüben.

Die Shell-Studie hat erneut gezeigt, was schon nach Pisa einen Aufschrei der Empörung über die Ungerechtigkeit des Schulsystems verdient hätte: Die deutsche Frühselektion züchtet sich eine Bildungscreme heran, die nach Hochschulreife und -studium abgeschöpft und veredelt wird, während die Verschiebemasse am unteren Bildungsrand für Billigjobs nur dann gebraucht wird, wenn die Konjunktur gerade günstig ist. Spätestens nach der sechsten Klasse steht weitgehend fest, wer im Hauptschultopf versauert.

Treibende Kraft hinter dem verzweifelten Karrierestreben der Kids sind offenbar die Eltern. Schulleistungen stehen laut der Studie „an der Spitze der innerfamiliären Konfliktanlässe“. Und die so Getriebenen laufen gegen die Wand: In der Unterschicht, wo der Streit um schlechte Noten am häufigsten ist, bleiben auch die meisten Kinder sitzen.

Dass die Mädchen ihre frühere Benachteiligung „vollkommen wettgemacht“ haben und insgesamt auch besser abschneiden als die Jungs, zeigt, dass auch die jungen Frauen die Leistungswarenwelt voll erfasst hat. Der Wunsch nach Teilhabe am kapitalistischen Glitzerwerk beschränkt sich nicht mehr auf machtgeile Typen. Die sozialere Herangehensweise der jungen Frauen lässt diese bei Personalchefs sogar besser ankommen – Soft Skills sind auf dem Arbeitsmarkt halt gefragt.

Gemessen an der Vehemenz, mit der persönliche Ziele verfolgt werden, nehmen sich die tatsächlichen Chancen auf den Traumjob kläglich aus. Die Frustration wird wegen der hohen Erwartungen gerade der Jüngsten weiter wachsen. Erste Aggressionsschübe der, wie die Forscher sie nennen, „robusten Materialisten“ sind besonders in wirtschaftlich marginalisierten Regionen und Stadtteilen zu spüren.

Das traurigste Ergebnis der diesjährigen Shell-Jugendstudie aber ist ein anderes. Die kapitalisierten Kids merken offenbar nicht, dass sie sich von einem unsozialen Schulsystem gegeneinander in Stellung bringen lassen. Wenn sie nach vier Jahren Grundschule an der wichtigsten Weggabelung ankommen, ist sicher den wenigsten Kindern klar, dass sie entweder auf die gymnasiale Sieger- oder die restschulische Verliererstraße abbiegen. Dass aber selbst die Bildungsverlierer mit 15, 16 Jahren, wenn sie aus der Hauptschule entlassen werden, immer noch von „Karriere“ träumen, zeigt die Kraft der Indoktrination dieser bildungsfeudalen Gesellschaft.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen