: Die einzig erfolgreiche Art, Punkte zu sammeln
■ Wäre Justin Ekwem, 23, nicht zufällig in Sierra Leone geboren, dann wäre er womöglich ein erstklassiger Basketballspieler geworden
So, Leute. Unser nächster Kandidat heißt Justin Ekwem. Yeah: Give a hand for Jastiiiiin Äkkuämmmm.“ Der Moderator bei der TD1-NBA-Basketball-Challenge, einer Freizeitturnier-Serie, die dieses Jahr im September auch in Berlin Station machte, ist ein echter Profi. Auch exotisch klingende Namen gehen ihm ohne Probleme über die Lippen. Sekundenlang zerdehnt er die Namen der Teilnehmer und jagt die einzelnen Buchstaben durch sämtliche Tonlagen seiner Stimmbänder. Trotzdem scheint es, als ließe der Kommentator des nun stattfindenden Slam-Dunk-Contests (ein Ballwurf-Wettbewerb) sich den Namen des kommenden Kandidaten ganz besonders lange auf der Zunge zergehen. Kaum betritt der Gerufene das Feld, ahnt man warum: Mit fast zwei Metern Länge und einem athletischen Körperbau verfügt Justin Ekwem nicht nur über eine beeindruckende Statur. Seine dunkelbraune Hautfarbe entspricht auch ganz dem Klischee vom Schwarzen-Sport Basketball.
Die Veranstalter, ein Kommunikationsunternehmen sowie die Werbeabteilung der profitorientierten amerikanischen National Basketball Association (NBA), können stolz auf sich sein: Am Ort des Ereignisses herrscht mit dem Auflaufen von Ekwem die erwünschte Authentizität. Keine Chance mehr für die Konkurrenz, einen hoch aufgeschossenen Weißen und einen Afrodeutschen. Mitleidig werden ihre Sprünge zur Kenntnis genommen.
Für den 23-Jährigen hat sich der Tag gelohnt. Zuerst qualifizierte er sich mit seiner Mannschaft, den Magic Five, für das Finale. Dann hat er auch noch beim Slam-Dunk-Contest den ersten Preis gewonnen: Ein Basketball-Trikot und einen sonst knapp 160 Mark teuren, original amerikanischen Spalding-Ball.
Einige Tage später scheint vom sportlichen Glamour nicht mehr viel übrig. Justin Ekwem ist an seinen Wohnort zurückgekehrt: ein Asylbewerberheim am Rande von Cottbus. Von der Straßenseite gähnen die eingeschlagenen Fenster eines mehrstöckigen, unbewohnten Plattenbaus dunkel dem Betrachter entgegen. Dahinter, auf einem eingezäunten Gelände, befindet sich neben einem Obdachlosenheim die Unterkunft für Asylbewerber: Eine Handvoll heruntergekommener Betonhäuser.
Bereits seit knapp elf Monaten lebt Justin Ekwem in dieser Anlage. Mit zwei weiteren Afrikanern teilt er sich einen rund 18 Quadratmeter großen Raum. Nur die notwendigsten Einrichtungsgegenstände finden hier Platz: Drei klapprige Jugendbetten, ein Couchtisch, ein tragbarer Schwarzweißfernseher, zwei Spanholzschränke, ein abschließbarer Spind. In letzterem bewahrt der Basketballspieler seine Schätze auf: Eine Plakette, deren Inschrift bezeugt, dass er mit seinem Team bei einem Freizeitturnier in Leipzig den Sieg errang, zwei weitere, ebenfalls gewonnene Spalding-Bälle sowie ein original Los-Angeles-Lakers-Shirt.
Alle zwei Wochen bekommt Justin Ekwem, wie alle Flüchtlinge hier, vom Cottbusser Sozialamt einen Nahrungsmittelgutschein in Höhe von 155 Mark. Daneben gibt es noch 80 Mark Taschengeld monatlich. Die gewonnene Sportswear könnte er sich nie und nimmer aus der eigenen Tasche leisten. Und in den Kleiderkammern der karitativen Verbände, an die die Asylbewerber bei entsprechendem Bedarf verwiesen werden, sind Kostbarkeiten wie ein angesagtes Lakers-Shirt nicht zu finden. Doch neben der materiellen haben die gewonnenen Trophäen für denTwen auch eine ideelle Bedeutung: Sie stehen für die im Alltag fehlende Wertschätzung: In Cottbus „Asylant“ und dann auch noch schwarz zu sein, ist unterste soziale Stufe.
Das finden nicht nur die vielen kahlrasierten jungen Männer, die gelangweilt truppweise durch die Straßen ziehen und wegen deren Pöbeleien und Übergriffen niemand abends das Asylbewerberheim mit weniger als einem halben dutzend Begleitpersonen verlässt. Auch ältere Cottbusser reagieren auf die Flüchtlinge unfreundlich. „Wenn man die nach dem Weg fragt, drehen sie sich wortlos um und gehen weg“, erzählt Ekwem.
Der Afrikaner ist nicht aus freien Stücken nach Cottbus gekommen. Viel lieber wäre er in seiner Heimat Sierra Leone geblieben. Dort, in der Nähe der Stadt Koindu in der Provinz Kailahun, die in der östlichen Region des Landes unweit von Guinea und Liberia liegt, betrieb seine Familie Landwirtschaft. Es ist ein überschaubares Leben, das Ekwem dort führt. Jeder kennt jeden und für die männliche Jugend besteht der wöchentliche Höhepunkt darin, ein Video-Kino in Koindu zu besuchen. Spät abends, nach der Vorstellung, darf Ekwem auch seine Basketball-Videos, die ihm Verwandte aus Amerika geschickt haben, in den Rekorder einlegen. Vor allem das Band mit den Slam-Dunks von Michael Jordan, dem legendären Star der Chicago Bulls, betrachtet er wieder und wieder.
Im Frühjahr 98 ist es mit dem beschaulichen Leben vorbei. Der seit Anfang der 90er-Jahre in Sierra Leone immer wieder aufflackernde Bürgerkrieg schwappt nach Kailahun. Rebellen der Revolutionary United Front (RUF) überfallen das Dorf, in dem Ekwem lebt, ermorden zahlreiche Bewohner und verstümmeln andere, indem sie ihnen Hände oder Ohren abschlagen. Außerdem setzen sie Häuser in Brand und nehmen junge Männer als Gefangene. Unter ihnen ist auch der Basketballspieler. Mit Leidensgenossen wird er in ein Lager verschleppt, wo er von RUF-Rebellen zum skrupellosen Guerillakämpfer umerzogen werden soll. „Besser ist, man tut, was die RUF-Leute einem sagen“, erklärt Ekwem zögernd. „Die fackeln nicht lange und erschießen dich.“ Freunde von ihm sind auf diese Art und Weise umgekommen. Doch bevor Justin Ekwem zu „Befreiungs-Einsätzen“ abkommandiert werden kann, findet er eine Gelegenheit zu fliehen. Er schlägt sich nach Guinea durch, wo bereits tausende seiner Landsleute ihr Dasein fristen. Ein entfernter Bekannter hilft dem Basketballspieler mit dem Nötigsten. Arbeit hat er für den jungen Mann nicht.
Auf seinen Streifzügen durch Guineas Hauptstadt Conakry entdeckt Ekwem irgendwann die Freiluft-Trainingsstätte des Mercury-Clubs, des örtlichen Erstliga-Basketball-Vereins. Von nun an schaut er regelmäßig vorbei, darf später sogar mittrainieren. „Weil ich so groß bin“, erläutert Ekwem schulterzuckend und leiert die Daten runter, die fortan seinen Aufenthalt in Guinea erträglicher machen: „Größe: 1,97 Meter, Gewicht: 90 Kilo, Position: Forward.“ Da der Flüchtling sich bei Mercury gut macht, das Team es in der laufenden Saison mit ihm vom Tabellenende bis an die Spitze schafft, findet er eine Nische zum Leben. „In Guinea gibt es für Basketballspieler zwar kein Gehalt“, erklärt Ekwem. „Die Vereinsleitung hat aber immerhin dafür gesorgt, dass ich ausreichend Nahrungsmittel bekam.“
Trotzdem reicht es Ekwem nach rund einem halben Jahr. Er sucht in Deutschland Asyl. Wie der damals 22-Jährige genau nach Deutschland gekommen ist, darüber redet er nicht mit Fremden. Man erfährt nur, dass ein Onkel ihm geholfen hat. Ein paar Wochen ist er in einem Heim in Eisenhüttenstadt untergebracht. Dann wird er nach Cottbus verlegt. Es ist nicht nur die winterliche Kälte, die dem Afrikaner Ausflüge außerhalb des Heimgeländes verleidet. Unter den Asylbewerbern kursieren auch bedrohlich klingende Geschichten von Cottbusser Skinheads.
Neben „Sozialamt“ oder „Einkaufsschein“ sind „Hau ab hier“, „Negersau“ und „Wir machen Dich tot“ die einzigen deutschen Worte, die Justin Ekwem in den ersten Monaten seines Deutschlandaufenthaltes lernt. Fernsehgucken, mit anderen Heiminsassen reden, kochen und schlafen sind die einzigen Beschäftigungen, mit denen der Twen seinen Tag totschlagen kann. Aber auch Ballwürfe üben. In einem provisorischen Basketballkorb. Der hängt zwar nicht in regelgerechter Höhe, reicht aber aus, um von Ekwem stundenlang mit einem Ball traktiert zu werden. Als ein in Cottbuss studierender Kameruner, der Freunde in dem Heim besucht, Ekwem bei seinen Ballwurf-Übungen sieht, lädt er ihn zum Basketball-Training der örtlichen Unisport-Abteilung ein. Dort trifft der junge Mann aus Sierra Leone erstmals Deutsche, die nichts gegen Schwarze haben.
„Was haltet ihr davon, bei der TD1-NBA-Basketball-Challenge in Leipzig mitzumachen?“ fragt Anfang Juni einer der Mitspieler. Justin Ekwem ist schnell überredet. Er hat ohnehin nichts Besseres zu tun. Zusammen mit ein paar Universitäts-Sportlern plus deren Freunde touren sie am 12. und 13. Juni nach Leipzig. Und der Name, den das Team sich gegeben hat, scheint tatsächlich Wunder zu wirken: Die Mannschaft Magic Five geht als Sieger aus der Veranstaltung hervor. „Mich hat dort sogar ein Typ angesprochen und gefragt, ob ich nach München kommen will, um da in der zweiten Liga zu spielen“, erzählt Justin stolz. Da der Asylbewerber Cottbus offiziell aber gar nicht verlassen darf und eine Arbeitserlaubnis für ihn ohnehin unerreichbar ist, kommt dieses Angebot für den Afrikaner nicht in Frage.
Eigentlich gehört Justin Ekwem nicht zu den Leuten, die vom Leben allzu viel erwarten. Nur manchmal fängt er an zu träumen: Was aus ihm hätte werden können, wenn er seinen Sport unter besseren Umständen hätte betreiben dürfen. Die Bilder aus den alten Basketball-Videos erscheinen ihm dann wieder vor Augen. Doch fast scheinen ihm diese Visionen Angst zu machen. Schnell und sehr leise sagt er dann: „Ich bin froh, dass ich überhaupt noch lebe.“ Waltraud Ajanaku
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