■ Die Zukunft als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein war Volker Rühe so gut wie sicher. Dann aber ließ der Spendenskandal den CDU-Parteivorsitz verwaisen, und nun will der um seine Posten als Landesvater gebrachte Rühe bei den morgigen Wahlen über seine Befähigung zum Parteichef abstimmen lassen. Dabei hält ihn offenbar nicht mal der scheidende Vorsitzende Schäuble für den Richtigen: Wie der CDU die Zukunft entglitt
Die Stimmung ist dem Orte angemessen. Versöhnung und Vergebung liegen in der Luft. „Auf ein Mindestmaß an Gerechtigkeit hat auch ein führender Politiker Anspruch“, sagt Wolfgang Schäuble in der Marktkirche in Hannover, und er erntet freundlichen Applaus. Es sei wahr, dass Politiker Vorbilder sein müssten. „Aber wenn man die Anforderungen überspannt, wird es unmenschlich.“ Beifälliges Kopfnicken.
Der scheidende CDU-Vorsitzende hat die Katharsis hinter sich. Seit er angekündigt hat, sich aus der ersten Reihe der Politik zurückziehen zu wollen, werden ihm Respekt und Wohlwollen entgegengebracht. Schäuble ist im „System Kohl“ sowohl Täter als auch Opfer gewesen. Sein bevorstehender Abschied ist die Folge eigener Verstrickung und strategischer Versäumnisse, zugleich aber auch eine Buße für Verfehlungen, die andere zu verantworten haben. Das hat ihn in vielen Augen mit einem Schlag aus dem Zwielicht gerückt und in den Rang einer moralischen Instanz erhoben.
Schäubles Rückzug steht für Schuld und Sühne. Jetzt folgt die Vergebung. Viele von denen, die in der Marktkirche seinem Vortrag über „Protestantismus und politische Moral“ lauschen, scheinen vom Wunsch beseelt zu sein, dass ein schmerzlicher Prozess nun endlich ein – versöhnliches – Ende finden möge. Schlimm war das alles mit der Spendenaffäre. Aber jetzt ist alles wieder gut. „Die meisten in der CDU leiden ja mehr als diejenigen, die über diese Dinge schreiben“, sagt ein Zuhörer vorwurfsvoll, und eine Welle von wärmender Zustimmung geht durch das Kirchenschiff.
Vordergründig ist hier in der Marktkirche allerdings nur ganz am Rande vom Finanzskandal der CDU die Rede. Schäuble hält sich streng an sein Thema. Er hält einen vorwiegend theologischen Vortrag, keinen aktuell politischen.
Man muss schon sehr genau hinhören, um die gut versteckten Botschaften zu hören, die er neben Unterscheidungen zwischen Lutheranern und Calvinisten ganz beiläufig auch noch in die Ohren seiner Zuhörer träufelt: Die größte Herausforderung für die evangelische Kirche seit dem Zweiten Weltkrieg seien deutsche Teilung und deutsche Einheit gewesen. „Naturgemäß“ und schon auf Grund der regionalen, konfessionellen Verteilung habe die evangelische Kirche mehr und bessere Kontakte in die DDR hinein unterhalten als die katholische. Sie sei auch von den Machthabern dort für gefährlicher gehalten worden.
Der Redner verweilt lange bei der großen Bedeutung, die der protestantischen Kirche im Prozess der deutschen Einheit zukomme: „Ohne Montagsgebete keine Montagsdemonstration.“
Nein, mit keinem Wort hat Wolfgang Schäuble zu dem Machtkampf um seine Nachfolge Stellung bezogen. Nichts hat er zu dem Argument gesagt, dass eine protestantische Frau aus dem Osten nicht Vorsitzende der CDU werden könne. Nicht ein einziges Mal hat er den Namen von Angela Merkel oder ihrer Rivalen in den Mund genommen. Aber man wird schließlich noch über die deutsche Einheit reden dürfen.
Volker Rühe ist auch Protestant, aber ein Symbol für die deutsche Einheit ist er nicht. Wofür steht er überhaupt? Kompetenz, Durchsetzungskraft, Zähigkeit und politisches Talent bescheinigen ihm auch Gegner. Aber was bescheinigen ihm seine Freunde? Und wer sind seine Freunde überhaupt? Natürlich hat Rühe keine innerparteilichen Widersacher. Die haben Spitzenkandidaten vor Wahlen nie. Aber Merkel hat auffallend viele Freunde, darunter auch namhafte Politiker, die ausgerechnet aus Rühes alter Heimat Hamburg und seiner neuen Wunschheimat Schleswig-Holstein stammen.
Auf Öffentlichkeit und Parteibasis kann Volker Rühe nicht bauen, wenn er nach dem Vorsitz seiner Partei greifen will. 46 Prozent der Unionsanhänger haben sich in einer Umfrage für Angela Merkel ausgesprochen. Fast doppelt so viele wie für ihren norddeutschen Rivalen. Was tut ein ehrgeiziger Mann in einer solchen Situation? Er greift auf einen Trick zurück, der sich schon bei anderen Gelegenheiten bewährt hat. Mag die deutsche Verfassung auch noch so wenig plebiszitäre Elemente enthalten – deutsche Politiker haben ihr Herz für Volksabstimmungen entdeckt, wenn es den eigenen Zwecken dienlich ist.
Gerhard Schröder hat die Niedersachsen über den SPD-Kanzlerkandidaten entscheiden lassen, Roland Koch die Hessen über die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Parteiübergreifend haben politische Führungskräfte in jüngster Zeit ein ganz neues Verständnis des Föderalismus entwickelt. Wenn es nach Rühe geht, wird jetzt in Schleswig-Holstein der neue CDU-Chef gewählt.
Sollten demnach alle für Heide Simonis als Ministerpräsidentin stimmen, die Angela Merkel auf dem Stuhl des Parteivorsitzenden sehen wollen? Rühe mutet seinen Mitstreitern eine Menge zu.
„Halb weg – ganz da“ hieß der Slogan, mit dem die schleswig-holsteinische CDU 1992 gegen die Doppelrolle des sozialdemokratischen Politikers Björn Engholm als Ministerpräsident und SPD-Vorsitzenden polemisierte. In kaum einem anderen Bundesland ist das politische Gedächtnis so gut und die Angst vor dem Eindruck fehlender Redlichkeit so groß wie in Schleswig-Holstein, wo die CDU 1988 die Mehrheit nach 38 Jahren an der Regierung dauerhaft verlor, weil Ministerpräsident Uwe Barschel den damaligen Oppositionsführer Björn Engholm hatte bespitzeln lassen.
Rühe gefährdet derzeit nicht nur die Glaubwürdigkeit seiner Parteifreunde, sondern auch die eigene. Wochenlang ist er über die Dörfer getingelt und hat das Publikum beschworen, bei der bevorstehenden Landtagswahl an Schleswig-Holstein und nur an Schleswig-Holstein zu denken. Er selbst tue es ja auch. Nichts, gar nichts schien ihn von dem zu interessieren, was außerhalb der Landesgrenzen vor sich ging, und schon gar nicht wollte er über den Zustand der Bundespartei sprechen. Was kümmert ihn jetzt sein Geschwätz von gestern? Vielleicht hat Rühe auch deshalb so wenig Freunde, weil er nie verbergen kann, dass er stets in erster Linie für sich selbst kämpft.
Chancenlos ist er dennoch nicht. Ihm ist das Kunststück gelungen, die Latte zugleich hoch und niedrig zu hängen. „Stabilisieren“ will er die CDU, für die Partei in etwa dasselbe Ergebnis erzielen wie bei der letzten Landtagswahl. 37 Prozent. Das wäre kein rauschender Sieg, aber doch mehr, als ihm die Umfragen derzeit bescheinigen. Und wenn alles ganz anders kommt? Die Grünen fliegen raus, die FDP kommt rein und Rühe wird Ministerpräsident? Dann hat er den Kampf um den Parteivorsitz gewonnen, ohne ihn je offen geführt zu haben. Wahrscheinlich aber ist das nicht. Vieles spricht dafür, dass Rühe seine Katharsis noch vor sich hat. Bettina Gaus
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