Die Zehnerjahre in der Kultur: The music never stopped

Mit dem Streaming-Boom ist in den Zehnern eine neue Form des Musikhörens entstanden. Auch die Ästhetik und Produktion haben sich gewandelt.

Mann von hinten mit Kopfhörern auf sitzt vor Lautsprechern

Gewinner des Modells Streaming sind bislang vor allem Superstars und große Musiklabels Foto: Tanner Boriack/Unsplash

Als ich kürzlich aus einer Laune heraus Kate Bushs „Wuthering Heights“ bei YouTube abspielte – wahrscheinlich, weil man den Song für die Seelenpflege einfach gelegentlich hören sollte –, da wurde mir eine beängstigend perfekt auf mich zurechtgeschnittene Playlist erstellt. Kurz nach der Eurythmie-Einheit mit der britischen Pop-Queen (im Video-Clip zu sehen) landete ich bei „Bela Lugosi’s Dead“ von Bauhaus, dann bei „Teenage Riot“ von Sonic Youth, schließlich bei Television.

Zuvor war ich bei Kate Bush noch ein bisschen im Kommentar-Thread hängen geblieben; jemand schrieb dort, er denke immer an seine verstorbene Schwester bei diesem Song. Leute aus aller Welt sendeten ihm daraufhin „hugs“ und „love“, tauschten sich darüber aus, wie ergreifend und einzigartig dieser Song ist.

Die Zehnerjahre, das kann man so sagen, haben mit dem Boom des Streamings eine neue Form des Musikhörens hervorgebracht. Der algorithmen- und linkgeleitete Musikkonsum ist gängig geworden. Auch die Musikökonomie, die Ästhethik, und die Produktionsbedingungen haben sich dadurch verändert. „The music never stopped“, diese alte Grateful-Dead-Zeile ist Realität geworden.

Der Stream kennt zwar Unterbrechungen – das ständige Durch- und Weiterklicken –, aber er kennt keine Pausen. Wenn der eine Song endet, bringt der Algorithmus den nächsten hervor. Kulturpessimisten sorgen sich, diese Entwicklung sei gleichbedeutend mit dem Ende des selbstbestimmten Musikentdeckens – was in gewisser Weise stimmt. Aber wäre das so schlimm?

Spotify startete mit niedlichen 7 Millionen Nutzern

Zunächst einmal ein paar Zahlen, die belegen, wie sehr sich der Musikmarkt in nur einer Dekade gewandelt hat. Zum Beispiel Spotify: Der heutige Streamgigant hatte 2010 niedliche 7 Millionen Nutzer weltweit, gegenwärtig liegt allein die Zahl der zahlenden Nutzer bei rund 113 Millionen.

Bei einer Analyse der global führenden Musikmärkte durch die International Federation of the Phonographic Industry (IFPI) im Jahr 2018 gaben 86 Prozent aller Hörer:innen an, Musik über Streamingdienste abzurufen – die meiste Zeit wird bei YouTube verbracht (47 Prozent). Für den deutschen Markt sind zwei Zahlen interessant: Im Bereich der digitalen Verkäufe hatte das Streaming 2009 einen Marktanteil von gerade mal 8,6 Prozent – im Jahr 2018 lag er bei 81,7 Prozent.

Gewinner dieser Entwicklung sind bislang neben dem Musikkonsumenten die Superstars und die großen Labels, die durch Streaming nennenswerte Einnahmen erzielen. Einen fairen Streamingdienst zu etablieren ist nicht gelungen. Vergleichsweise künstlerfreundliche Angebote wie Deezer konnten sich nicht durchsetzen; grundsympathische Roots-Plattformen wie Bandcamp bieten zwar eine Alternative, haben aber keinen Streamingdienst mit den Funktionen von Spotify oder Apple entwickelt.

Stattdessen ist Spotify zum alles dominierenden Pop-Discounter geworden, der mit unseren Daten mehr handelt als mit Musik. Wo das Geld landet, das die Musikindustrie nach dem vorherigen Krisenjahrzehnt inzwischen immerhin wieder einspielt, fragt sich wohl so mancher Künstler. Denn die Beträge, die pro Stream beim Künstler eingehen, sind eher Almosen.

Ökonomisch ist Streaming fragwürdig

Laut Digital Music News waren es zuletzt durchschnittlich gerundete 0,007 Euro/Stream bei Apple Music, 0,004 Euro bei Spotify und 0,0006 Euro bei YouTube. Bei 50.000 Abrufen käme ein Künstler demnach auf 350 Euro (Apple), 200 Euro (Spotify) bzw. 30 Euro (YouTube). Bei einem Download hingegen oder bei einer CD-Single kommen oder kamen vom Verkaufspreis etwa zwischen 13 bis 20 Prozent beim Künstler an – 50.000 Downloads könnten demnach 6.500 Euro aufwärts in die Kasse spülen. Diese Zahlen lassen sich zwar nicht eins zu eins gegenüberstellen (weil ja ein Track auch mehrfach von einer Person gestreamt werden kann), spiegeln aber trotzdem die Diskrepanz.

Ökonomisch ist das Modell Streaming also fragwürdig (im Übrigen genauso wie die Einigung, die die Verwertungsgesellschaft Gema mit YouTube 2016 erzielte und über deren Details die Öffentlichkeit so gut wie nichts weiß), aber auch ästhetisch hat sich durch die Klicktokratie im Musikbusiness einiges verschoben. Songs werden bereits auf Spotify-Standards hin komponiert.

Spotify zählt einen angespielten Track erst nach Überschreiten der 30-Sekunden-Marke als Abruf zählt. Die ersten 30 Sekunden müssen also knallen, zu Beginn des Stücks müssen entscheidende Motive schon auftauchen, der Kunde muss getriggert werden. Wobei sich die Mainstream-Massenproduktion vorher eben am Radio-Airplay orientiert hat – und nun an der Streambarkeit.

Jenseits des Massenmarkts gibt es längst Gegenbewegungen. So wies zum Beispiel Popkritiker Simon Reynolds gerade im Guardian darauf hin, dass all die vielen Plattformen mit den schier unendlichen Möglichkeiten, sich Kultur anzueignen, zu neuen Subkulturen, zu einer Entstehung von Mikro-Szenen und Nischen geführt hätten. Und wenn einem Algorithmen dabei helfen, in diese Nischen vorzudringen – umso besser!

Vinyl als Pendant zum Buch

Auch „das Ende des Albums“, wie es angesichts des vermehrten „Droppens“ von einzelnen Tracks prophezeit wurde, ist nicht wirklich eingetreten. Es gibt immer noch viele Alben, die sich nur aus der Gesamtheit erschließen (man denke etwa an die jüngsten Alben von Kendrick Lamar, Solange oder Tocotronic). Zudem kann man sich vorstellen, dass – analog zu Lesekreisen und zum Slow Reading in der Literatur – auch ein tieferes, aufmerksameres Hören wieder interessant wird.

Dass die Vinylverkäufe in den Zehnerjahren insgesamt wieder deutlich angestiegen sind, könnte ein Indiz dafür sein. Insgesamt führt die ständige Online-Verfügbarkeit der halben Popgeschichte wohl dazu, dass noch mehr Musik gehört wird (laut IFPI-Erhebung verbringen Nutzer im Schnitt 17,8 Stunden/Woche mit Musik). Auch wird vermutlich so viel Musik ausgetauscht wie nie zuvor – und sich darüber ausgetauscht. Siehe Kate Bush.

Was die Zukunft bringt? Die Klimafrage wird wohl auch im Streaming ankommen, man wird sich Gedanken machen müssen über den Stromverbrauch, insbesondere der vielfressenden Videoformate. Ansonsten könnten die Algorithmen selbst in Zukunft noch mehr Musik machen als dies bereits der Fall ist.

Auch hier wird sowohl für den Massenmarkt (zum Beispiel automatisch generierte Ambient-Musik) als auch im Underground (KI-Experimente) schon viel ausprobiert. Weitere Versuche, Fairtrade-Streaming-Plattformen zu entwickeln, wären wünschenswert – im kommenden Jahrzehnt hoffentlich mit einem zufrieden stellenderen Ergebnis.

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