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Die WahrheitFür mich soll’s rote Linien regnen

Vom Verhandlungstisch zur industriellen Verwertung: Die EU will das nächste große Ding nach KI nicht verpassen und setzt auf neueste Technologie.

Rote Linien zu überschreiten, ist strengstens verboten Foto: ap

„Was für ein Tag!“, juchzt Marie-Ann Kristiansen, EU-Grenzziehungskommissarin, in der Mensa des Brüsseler EU-Parlaments. Sie schraubt eine Piccolo-Sektflasche auf und setzt sie an den Hals. „Die Billiglohnländer hatten uns mit roten Linien zuletzt regelrecht überflutet“, fährt sie fort und wischt sich über den Mund. Mehrere Flughäfen in der Eurozone hätten dichtmachen müssen, weil die Dinger überall herumlagen, sogar auf den Start- und Landebahnen, erregt sich die Kommissarin und nimmt einen weiteren Beruhigungsschluck. „Wir mussten handeln“, verkündet sie staatstragend. „Und wir haben gehandelt.“

Die Sache fing, wie so oft, harmlos an. Und es begab sich vor vielen Jahren, dass jemand aus dem politischen Betrieb, um deutlich zu machen, dass eine bestimmte Position inakzeptabel war, das Bild einer roten Linie bemühte, die nicht überschritten werden dürfe. Das Beispiel machte Schule. Und heute gibt es kein Halten mehr. Ob es um die Ukraine geht, Gaza, Asylpolitik oder die Erhöhung des Leberwurstpreises: Immer droht irgendwer mit einer roten Linie. Oder legt eine auf den Verhandlungstisch. So wie der SPD-Europapolitiker René Repasi.

Kaum hatte im Europäischen Parlament die konservative EVP zusammen mit Rechtsextremen eine Abschwächung des „Lieferkettengesetzes“ beschlossen, beklagte Repasi die fehlende Gesprächsbereitschaft der EVP und ächzte: „Dabei hatten wir unsere roten Linien vom Tisch genommen.“

Oha. Gleich mehrere. Vielleicht waren es sogar viele. Als er am Morgen des Beschlusstags sein Haus verließ, rief ihm womöglich seine Frau hinterher: „Schatz, du hast deine Butterbrotdose vergessen.“ Darauf er: „Schatz, die passte nicht mehr in den Rucksack. Der ist randvoll mit roten Linien. Die schleudere ich denen gleich in die Speichen ihres fucking Fahrradkettenliefergesetzes.“

Kipppunkt auf Tisch

„Das Bild der auf dem Tisch liegenden rote Linien – das war der Kipppunkt“, analysiert Hagen Stolz, Professor für die Geschichte der Gegenwart. „Auf einmal schienen die Linien nicht mehr nur eingebildet, sondern real. Zum Anfassen.“

Anderntags geht ein KI-generiertes Reel viral. Es zeigt Repasi, wie er einen Rucksack voller roter Linien auf einem Konferenzzimmertisch auskippt, nur um die Linien anschließend wieder einzeln vom Tisch zu nehmen. Insbesondere in einem Gewerbepark in Bangladesch findet das Filmchen Anklang. Man nimmt es für bare Münze und meint, die Europäer hätten Bedarf an roten Linien. „Wir haben sofort mit der Produktion begonnen“, erzählt der Unternehmer Rahman Chowdhury in einem weiteren Tiktok-Reel, das ihn vor seiner eilig zusammengefrickelten Linienmaschine zeigt und das ebenfalls viral ging. Mehrere asiatische Firmen, vornehmlich in autokratisch regierten Ländern, wo Linientreue wichtig ist, stellen seitdem massenweise rote Linien her. Bei Temu gibt es 100 Stück für 4,87 Euro, 1.000 für 5,43 Euro. Material: irgendwelche Ewigkeitschemikalien, biologisch nicht abbaubar, und logisch schon mal gar nicht. Die Nachfrage im EU-Raum ist riesig.

Triumph des Absurden

„Damit konnte niemand rechnen. Erneut ein Beweis, dass in Zeiten des schwelenden Schwachsinns das Absurde triumphiert“, erläutert Professor Stolz. Mit den Linien hätten die Leute eine simple Waffe in der Hand, um die Grenzen ihrer Toleranz sichtbar zu machen. „Der Mensch, dem nie etwas auf den Wimpel geht, wurde noch nicht geboren. Nicht von Linien schwadronieren – ans Licht damit. Die Schlange im Supermarkt ist dir zu lang? Leg eine rote Linie dorthin, wo du zu warten bereit bist. Die Frisur von Trump verletzt deine Gefühle? Verstopf den Briefkasten des Weißen Hauses mit roten Linien.“

Hochrechnungen des Naturschutzbundesamts zufolge wird die Erde, wenn sich die roten Linien weiterhin einer explodierenden Nachfrage erfreuen, bereits um das Jahr 2040 herum aus dem All betrachtet wie ein knallrotes Wollknäuel aussehen. Die Menschheit wird an ihrer Liebe zur Grenzsetzung buchstäblich ersticken. Und der blaue Planet umbenannt in roter Planet. Was gut zur Erderhitzung passt.

„Pah. Das lösen wir mit Technologie“, gluckst in Brüssel Grenzziehungskommissarin Kristiansen. „Wo Boom ist, ist Benefit. Die Linien gelten schon als nächstes großes Ding nach KI. Darum haben wir heute ein Exzellenzcluster gegründet, um in die Produktion einzusteigen. Wir dürfen uns nicht von den Linien anderer Länder abhängig machen. Schon gar nicht von deren Billig-Einweglinien“, tönt sie und wirft das leere Sektfläschchen in den nächstbesten Papierkorb.

Eine Reinigungskraft brüllt: „Junge Frau, die gehört dahinten in die Kiste!“ Eine rote Linie knallt Kristiansen vor die Füße. Die schleudert sie zurück: „Für Sie immer noch Frau Kommissarin. Ha! Volltreffer!“ Sodann spaziert sie zurück in ihr Büro, ein Liedchen von Hildegard Knef vor sich hin trällernd: „Für mich soll’s rote Linien regnen.“

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