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Die WahrheitErst gehängt, dann begnadigt

Wenn es darum geht, skandalöse Fehlurteile aufzuheben, lässt sich die irische Justiz mitunter erstaunlich viel Zeit.

B esser spät als nie. Vor 143 Jahren, am 3. Oktober 1882, wurde der Bauer Thomas Browne auf einem Feld in der südwestirischen Grafschaft Kerry erschossen. Sylvester Poff und sein Cousin James Barrett wurden für den Mord gehängt. Nun sind die beiden begnadigt worden, weil sie unschuldig waren. Ihren direkten Nachkommen, die mit dem Stigma leben mussten, mit verurteilten Mördern verwandt zu sein, nützt das freilich nichts und den beiden Gehängten erst recht nicht.

Die Todesurteile hatten eine Vorgeschichte. Am 6. Mai jenes Jahres wurden der Chefsekretär der irischen Regierung Lord Frederick Cavendish und der ständige Unterstaatssekretär Thomas Burke bei einem Spaziergang durch den Dubliner Phoenix Park erstochen. Es war der Höhepunkt der sogenannten Landkriege, der Kämpfe gegen die Großgrundbesitzer. Als Reaktion darauf erließ die britische Regierung ein Gesetz, das härteste Strafen für gewalttätige Ausschreitungen vorsah.

Poff war pfälzischer Abstammung. Seine protestantischen Vorfahren kamen in den 1740er Jahren nach Kerry, nachdem sie Deutschland verlassen hatten, um der religiösen Verfolgung zu entgehen. Irgendwann in den folgenden 130 Jahren wurden die Poffs katholisch.

Viele Pfälzer in Irland florierten im Flachshandel, aber Poff gehörte nicht zu ihnen. Er, seine Frau und die vier Kinder wurden von ihrem Land vertrieben und mussten bei Nachbarn unterkommen. James Barrett war erst Mitte 20, er lebte bei seinem Vater und war nicht vorbestraft.

Selbst die Staatsanwaltschaft konnte kein Motiv für den Mord an Browne finden, doch die Geschworenen verurteilten die beiden im zweiten Anlauf trotzdem aufgrund der Aussage einer einzigen Zeugin, Bridget Brosnan. Die hatte ihre Geschichte mehrmals geändert, und ihre Aussage beeindruckte die ausschließlich männlichen Geschworenen im ersten Prozess nicht. „Keine Chance“, lautete ihre Antwort, als der Richter sie fragte, ob sie zu einem Urteil gekommen seien.

Eine zweite „Sonderjury“ wurde aus einigen wohlhabenderen Bewohnern des Bezirks einberufen, die über die Landkriege entsetzt waren. Sie verurteilten Poff und Barrett im Dezember 1882, obwohl die Beweislage immer noch genauso dünn war wie beim ersten Prozess.

Selbst für viktorianische Verhältnisse galt der Mordprozess als Farce. Sechs Jahre später erklärte der irisch-nationalistische Abgeordnete Edward Harrington, die beiden seien „mit Bedacht ermordet“ worden und die Beweggründe für ihre Hinrichtung seien politischer Natur.

Es dauerte dann noch 137 Jah­re, bis auch die Regierung zu dieser Einsicht gelangte. Sie empfahl dem irischen Präsidenten Michael D. Higgins nun, Poff und Barrett zu begnadigen. Die britische Regierung ist viel flinker: Den Soldaten, die während des Nordirlandkonflikts ab 1969 gemordet haben, droht keine Strafe.

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Ralf Sotscheck
Korrespondent Irland/GB
Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net
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