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Die WahrheitÖstrogenesser

Tagebuch einer Frühnackten: Mit einem Fremden Freundschaft zu schließen, schließt nicht aus, dass es eine gemeinsame Vergangenheit gibt.

V or Kurzem machte in meinem Stammcafé ein Engländer – für einen Briten überraschend spontan – eine anerkennende Bemerkung über meine Sonnenbrille. Was meine Bereitschaft zur Kommunikation mit Fremden betrifft, geht mir ein Ruf voraus, und so ergriff ich die Gelegenheit, endlich mal wieder mit jemandem in meiner englischen Zweitsprache herumzualbern.

Nach zwei Stunden „bantering“ hatten wir eine Überdosis Kaffee intus und waren Freunde. Und wie es so geht bei neuen Freundschaften, erzählt man sich bei Folgetreffen Zeug aus dem eigenen Leben und Gott weiß was sonst noch.

Wir plauderten also bei Drinks und Estragonhuhn über unsere Kindheiten in Gloucestershire und am Rhein, und bei der Erwähnung meines Heimatkaffs wurde er plötzlich hellhörig. Endgültig spooky wurde es, als ich meinen täglichen Schulweg via Boot zu einem als Gymnasium fungierenden Nonnenkloster auf einer „Liebfraueninsel“ im Rhein schilderte.

An dieser Stelle gerieten wir in einen britisch-höflichen Disput über die Lage eines anderen Nests am gegenüberliegenden Ufer, bis er enthüllte, er habe dort mehrere Jahre mit Blick auf meine ehemalige Bildungsschmiede verlebt und wisse genau, wo das sei! Dann erbrachte er den Google-Beweis. Wie hoch ist bitte die Chance, dass ein Engländer die Lage der Provinzkäffer, in denen man aufgewachsen bist, besser kennt als man selbst?

Beschämt lenkte ich mit einem Bericht darüber ab, wie wir Mädchen im Novembernebel stundenlang warten mussten, dass der sich lichtete und unser Boot doch noch übersetzen konnte, wobei wir uns den Hintern abfroren und Blasenentzündungen holten. „Stell dir vor“, empörte ich mich, „we weren't allowed to wear pants!“ Die „Lieben Frauen“ duldeten nämlich selbst im Winter keine Hosen, sondern nur Röcke.

„Really?“ Mein Gast betrachtete mich prüfend und wechselte nach einer Pause das Thema. Was das für ein speziellen Gewürz am Huhn sei? „Das ist … äh, Estschädgon“, klärte ich auf. In der Hoffnung, er würde erkennen was ich meinte, sprach ich es englisch aus, denn ich konnte mir die Bezeichnung für das Kraut noch nie merken. Er starrte auf seinen Teller.

Auf meine Frage, ob es ihm nicht schmecke, erklärte er, er habe nun also eine Frau kennengelernt, die als Kind ohne Unterhosen quasi nackt zur Schule gehen musste und jetzt ihrem Männerbesuch Östrogen ins Essen mische. Selbst für einen Engländer sei dieses erstaunliche Maß an Exzentrik nicht leicht zu verkraften.

So schnell kann es also gehen, eine mühsam erworbene Reputation als geistig halbwegs gesunde Person innerhalb kürzester Zeit zu zerstören. Ich lernte dann noch den Gebrauch des englischen „Trousers“ gegenüber dem amerikanischen „Pants“, googelte „Estragon-Tarragon“, und wir betranken uns angemessen völkerverständigt.

Demnächst werde ich dann meinen neuen Wortschatz in London erproben. Stay tuned!

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Pia Frankenberg
Lebt und arbeitet als Filmregisseurin, Drehbuch- und Romanautorin in Berlin. Schreibt in ihren Kolumnen über alles, was sie anregt, aufregt oder amüsiert
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