Die Wahrheit: Atlas der Tatsachen
Warum gibt es eigentlich nicht längst ein Tatsachenamt? Schließlich behauptet das Amtsgericht schriftlich, „Tatsachen eingetragen“ zu haben.
S chon mal eine Tatsache eingetragen? Ich auch nicht. Keinen Schimmer, was damit gemeint sein soll. Das Amtsgericht aber versteht sich drauf. Über die „Zahlstelle Justiz“ ließ es mir eine Rechnung über 300 Euro zustellen. Drei Posten à 100 Mäuse, einer lautete: „Bereitstellung von Registerdaten“. Die anderen zwei: „Eintragen einer Tatsache“.
Zunächst einmal: Toll, dass es noch eine Institution gibt, die der guten alten Tatsache die Stange hält. Das ist in unserer postfaktischen Gegenwart ja keine Selbstverständlichkeit. Allerdings hätte ich gern gewusst, um welche Tatsache es sich in meinem Fall handelte. Das ging aus dem Schrieb nicht hervor. Ich ahnte, es könnte damit zu tun haben, dass ich vor Kurzem eine GmbH aufgelöst hatte.
Immerhin fand ich den Hinweis: „Wenn Sie nicht wissen, warum Sie die Rechnung bekommen haben oder wenn Sie die Rechnung nicht verstehen, dann wenden Sie sich bitte an …“ Wow. Ein Hoch auf die inspirierende Kreativität von Behörden! Einfach irgendwem eine Rechnung über irgendwas schreiben – und ans Ende diesen Killersatz. So mache ich es ab sofort auch.
Die Dame vom Amtsgericht, die ich anrief, bestätigte meinen Verdacht. Ich ermunterte sie, ihren Vorgesetzten mitzuteilen, kein Mensch auf der Welt würde „Eintragen einer Tatsache“ verstehen. Darauf sie, aufrichtig empört: „Sie sind der Erste, der das sagt!“ Das gab mir zu denken. Schlagartig wurde mir klar: Ein Tatsachenamt – das wär’s. In der Art des Patentamts. Wer eine tatsachenverdächtige Beobachtung macht, meldet sie, um sie vor dem tödlichen Biss der Fake-News-Bestie zu schützen, beim Tatsachenamt an. Die recherchieren, ob es sich tatsächlich um eine Tatsache handelt, und wenn ja, wird sie eingetragen. Zur Beglaubigung bekommt sie ein amtliches „e. T.“ für eingetragene Tatsache angehängt.
Alle Tatsachen würden in einem Atlas der Tatsachen dokumentiert. Käse wächst nicht an Bäumen (e. T.). Nur in italienischen Lokalen bekommt man einen wirklich guten Espresso (e. T.). Das Werk schießt direkt auf Platz eins der Bestsellerliste, denn alle Welt will ja immerzu wissen, was Sache ist, also Tatsache. Fake News erkennt man am fehlenden e.-T.-Gütesiegel. Es sollte aber markenrechtlich geschützt werden, um Rechtsstreitigkeiten mit dem Steven Spielberg als Schöpfer des Blockbusters „E. T.“, vorzubeugen.
Sicher, die deutsche Bürokratie würde durch das neue Amt weiter aufgebläht. Aber das ist kein Problem, denn wer glaubt, sie ließe sich abbauen, hält es auch für möglich, den Mount Everest abzubauen und 100 Meter weiter links neu zu errichten. Auf ein Amt mehr oder weniger kommt es nicht an. Dies ist keine Tatsache, sondern meine Meinung. Darum braucht sie nicht eingetragen und mein Konto dafür nicht belastet zu werden.
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