Die Wahrheit: Der jubelnde Heiland
In der Stunde des Sieges: So sehen Körpersprache und Geisteshaltung der Fußballspieler nach dem Titelgewinn aus.
Es ist wieder die Jahreszeit, da auf den Fußballfeldern Europas die Medaillen, Schleifchen, Bienchen und Pokale für Titel und Erfolge verteilt werden. Abstieg und Aufstieg, die Guten ins Töpfchen, die schlechten in die Regionalliga.
Die Bilder von den Siegesfeiern gehen mordsviral, denn es menschelt außerordentlich: hier Tränen der Begeisterung, da der Enttäuschung. Heisere Jungmänner mit vom Bierguss angeklatschten Haaren krähen, halbnackt oder in Turnsachen, entseelt in hingehaltene Mikrofone, während in ihrem Rücken betrunkene Familienväter, flaumbärtige Incels in Fanklamotten und stadtbekannte Rechtsextreme den Sportplatz in seine Einzelteile zerlegen. Heute dürfen sie das; an einem Tag wie diesem dürfen alle alles. Die Stadt hat in der Sommerpause Zeit genug, die Arena von Steuergeldern wieder notdürftig zusammenzunageln.
Doch das Hauptaugenmerk gilt den Spielern. Im Moment des Triumphs, so suggerieren die Kommentatoren solcher Szenen, zeigen sich deren wahre Persönlichkeiten. Besonders bejubelt werden jene Profis, die am begabtesten darin sind, so etwas ähnliches wie menschliches Verhalten zu faken.
So sehen wir, wie ein Nationalspieler im Vorfeld einer Siegerehrung einem Jungen im Rollstuhl seine Trainingsjacke überhängt, damit er nicht friert. Der Heilige Martin auf der Doppelsechs.
Ein größerer Gegensatz ist im Grunde gar nicht vorstellbar: hier der große Fußballstar, ein Symbol auch für den überleistungsfähigen Körper. Dort der behinderte kleine Junge. The Beauty and the Beast. Gegen das dankbare Leuchten in den Augen des Buben können weder die ejakulierende Goldschnipselkanone noch das anschließende Feuerwerk auch nur im Ansatz anstinken.
Was für ein Held!
Entsprechend überschlagen sich die Lobeshymnen unter dem millionenfach kommentierten Ausschnitt: So cute! Was für ein Held! Er ist charakterlich wirklich jede der Millionen wert, die er pro Woche verdient. Ein Vorbild, nicht nur für die Jugend! Er ist der Heiland, der zu uns herabsteigt, um uns einfachen Leuten den Arsch zu waschen und zu salben. Und alle sind sich einig: Er müsste das nicht tun. Er ist gutaussehend und hochtalentiert. Er hat es geschafft. Was kümmern ihn da irgendwelche scheißverschissenen Menschen? Die lenken doch nur von seiner höheren Berufung ab.
Daran halten sich die meisten Spieler auch gewissenhaft. So sehen wir sie in einem anderen Clip nach dem Match auf einer improvisierten Bühne eine Reihe Anzugträger abschreiten und ihnen nacheinander die Hand schütteln. Ungefähr in der Mitte dieses Ehrenkomitees steht wie Falschgeld ein kleines Mädchen, das von den Spielern komplett ignoriert wird. Es ist, als wäre es gar nicht da.
Aber kein Wunder, dass die Spieler sie nicht sehen. Denn die müssen den Kopf stets oben haben, Blick geradeaus und die Schultern forsch nach hinten gedrückt; das ist die sogenannte Körpersprache, von der die Sportreporter immer labern – Mannschaft X habe „eine ganz andere Körpersprache als Team Y“, oder „Die Körpersprache von Spieler Z gefällt mir überhaupt nicht“ –, die ist das wichtigste, das wird den Spielern eingeschärft: Wer den Blick senkt, verliert – scheiß auf Technik, Taktik oder Mannschaftsaufstellung. Es gibt bereits ganze Wörterbücher: „Körpersprache – Deutsch, Deutsch – Körpersprache“. Mit einem Vorwort von Leni Langenscheidt.
Deshalb übersehen sie das kleine Mädchen. Schließlich sind sie nicht nur viel wichtiger, sondern auch viel größer. Wenn sie sie wahrnehmen könnten, wäre ihre Körpersprache falsch, und die muss ja stimmen, sonst hätten sie nicht gewonnen und würden nun nicht über das Siegerpodest latschen. Logischer geht’s nicht.
Ein im Innenraum vergessenes Einlaufkind?
Was macht das Gör hier überhaupt, ist sie ein seit über zweieinhalb Stunden (plus Elfmeterschießen) im Innenraum vergessenes Einlaufkind? Und noch dazu um diese Uhrzeit, es ist schon kurz vor Mitternacht, sollten da Achtjährige nicht längst im Bett sein? Wo sind die Eltern, was sagt das Jugendamt?
Und dann bemerkt der ungefähr fünfzehnte Spieler in der Reihenfolge doch noch das Kind. Vielleicht hat er mit dem Schlusspfiff die korrekte Körpersprache eingebüßt, womöglich hat er auch von irgendwo zu seinen Füßen einen leisen Klagelaut vernommen. Jedenfalls beugt er sich zu ihm herab, spricht ein paar Worte, dann geben sie einander High five.
Die Kommentierenden frohlocken: Er ist so reich an Erfolg, Ruhm und Geld, und dabei doch so bodenständig geblieben, einer von uns, der sogar mit Kindern spricht, die nur ganz schlecht Fußball spielen können. Der Verdacht der Steuerhinterziehung und die doofen Vergewaltigungsvorwürfe lösen sich endlich auf in Wohlgefallen, denn einen wahrhaft guten Menschen beurteilt man stets nach seinen besten Taten.
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