Die Wahrheit: Die Rache des Schweizers
Wenn in der Stammkneipe Eloge auf Eloge auf die Schweizer Eidgenossenschaft folgt, dann ist was faul am Tresen … Aber was nur?
J edes Mal, wenn wir draußen Schritte hörten, zuckten wir zusammen. Wir wussten, dass Ueli in der Stadt war. Vor ein paar Tagen hatte Theo ihn im Vorbeiradeln auf dem Goetheplatz gesehen, und seitdem war uns klar, dass er früher oder später im Café Gum auftauchen würde, um die übliche Eloge auf die Schweiz und alles Schweizerische zu halten und das, was hierzulande schief lief, mit Hohn und Spott zu übergießen.
„Ich hab für Deutschland echt nicht viel übrig“, sagte Theo, „aber dieses überhebliche Schweizertum geht mir auf den Sack.“ – „Als ob wir noch mit Eselkarren zum Einkaufen fahren und die Tiefkühlpizza abends am Holzspieß über dem Lagerfeuer braten würden“, schnaubte Luis. „Und alle E-Mails wegen des miesen Internets ausdrucken, in alte Weinflaschen stopfen und in den nächsten Fluss schmeißen müssen“, ergänzte Theo. „Genau, sehr richtig!“, brummten wir zustimmend.
„Früher fand ich die Schweiz ja mal gut“, sagte Raimund: „Irgendwie weltoffener, freier, unverstaubter als die muffige BRD.“ Luis pflichtete ihm bei: „Max Frisch war ja auch Schweizer.“ – „Eben!“, sagte Raimund. „Und er hat die Schweiz gehasst“, fauchte Theo verächtlich. „Außerdem“, meldete sich Rudi, der Blödmann, „war er schlecht zu Ingeborg Bachmann.“ – „Außerdem …?“ Theo war irritiert. „Was heißt denn ‚außerdem‘?“ – „Zumal sie ja Österreicherin war“, kicherte Raimund. „Hä? Was soll denn das? Was redet ihr für ein Zeug?!“, rief Theo aufgebracht. „Herrgottnochmal, so kann man nicht diskutieren!“
„Wobei er in Wahrheit ja gar kein Schweizer ist“, behauptete Luis, „hab ich jedenfalls gehört.“ – „Max Frisch??“ Theo war dem Herzstillstand nahe. „Nicht doch“, beruhigte ihn Luis: „Ueli.“ – „So ein Bullshit“, meinte Theo. Zum Glück wurde er wieder ruhiger. „Hör dir doch seinen blöden Akzent an. Überall diese ‚Hündlis‘ und ‚Hüüslis‘ und ‚Chügelis‘, die durch seine Sätze gespenstern. Außerdem heißt er Ueli. Nur Schweizer haben solche bekloppten Namen.“
Ein echter Künstlername
„Ist ein Künstlername“, brummte plötzlich Petris, der Gumwirt. Er stand wie immer hinter der Theke, trocknete Gläser ab und tat so, als ob ihn das alles nichts anginge.
„Ein Künstlername?“ Theos Verwirrung nahm wieder stark zu. „Und welche Kunst treibt er?“ – „Ist doch klar: Er ist Schweizer.“ – „Schweizer sein ist eine Kunstform?“ – „Aber ganz recht. Mitsamt allen, aber auch allen ‚Hündlis‘ und ‚Hüüslis‘ und dem hohen Loblied auf die Pünktlichkeit der Schweizerischen Eisenbahn.“
Petris hielt das Glas, das er abtrocknete, gegen das Licht. „In Wahrheit heißt er Anaximandros und ist Grieche.“ – „Grieche? Wie du?“
Petris nickte. „Aus Euböa“, sagte er. „Und er hat sehr wahrscheinlich einfach viel zu viele deutsche Touristen getroffen, die so getan haben, als ob wir Griechen noch mit dem Eselkarren zum Einkaufen fahren und die Tiefkühlpizza abends am Holzspieß über dem Lagerfeuer braten. Deshalb ist er jetzt Schweizer.“
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