Die Wahrheit: Der Sitzsack geht herum
Neueste wissenschaftliche Forschungen zur menschlichen Nichtfortbewegungsmethode Nummer eins: das Sitzen in seiner ganzen dramatischen Tragweite.
Der Mensch sitzt und sitzt und sitzt den lieben, langen Tag, mehr als es gut ist. Gerade in der heutigen Bürogesellschaft hockt die halbe Welt vor ihren Computern und beschäftigt sich mit allem und jedem, nur nicht mit dem Sitzen. Als Forschungsgegenstand in der Wissenschaft ist das Sitzen noch relativ jung. Daher verwundert es nicht, dass der Sitzforschung die wissenschaftliche Aura fehlt, die Disziplinen wie der Polymerstochastik, der Vergleichenden Rabulistik und den Postcolonial Studies ganz selbstverständlich zugestanden wird.
Zu Unrecht, wie Studienleiter Professor Ingo Froböse meint. Froböse, der in jungen Jahren als erfolgreicher 100-Meter-Sprinter wohl kaum zufällig eine Laufdisziplin ausübte, die hinsichtlich der dabei zurückgelegten Strecken dem Sitzen am nächsten kommt, spricht deshalb auch nicht von „Sitzen“, sondern von „sedentärem Verhalten“.
„Wobei dieser Begriff natürlich die Frage aufwirft, ob Sitzen nicht eher ein Nichtverhalten ist. Ob man sich nicht erst in dem Moment irgendwie verhält, in dem man – nicht dass ich dazu auffordern würde! – aufsteht“, führt der aus Schwaben stammende gertenschlanke Wissenschaftler aus. Zu dieser eher sitzphilosophischen Frage gebe es derzeit online auf freizugänglichen Preprint Servern hochinteressante Studien zu lesen.
Einen praktischeren Ansatz verfolgt Carola Traub. Die Vorsitzende der Deutschen Sitzliga e. V. will nicht immer nur klagen, sondern die Menschen dort abholen, „wo sie leider nicht sitzen, sondern stehen“. Wie aus einer aktuellen Studie der Deutschen Krankenversicherung und der Deutschen Sporthochschule Köln hervorgeht, sitzt jeder Bundesbürger durchschnittlich 554 Minuten am Tag, das sind 9,2 Stunden täglich. Der menschlichen Natur hingegen entspreche nun einmal eher das Herumirren, das Auf-der-Stelle-Treten, aber auch das Zappeln, Wanken oder das vor allem bei Rentnern beliebte Zusammenrotten in Kleingruppen, um beim Nordic Walking gemeinsam Fahrradwege kaputt zu stechen.
Statistisch sitzen in Brandenburg die Ansässigen am wenigsten
„Die Nichtsitzzeiten sind trotz aller Fortschritte immer noch zu hoch.“ Am meisten würden die Menschen in Brandenburg umherhasten, ganz einfach weil sie in dem sandigen Untergrund, an den das Bundesland festgedübelt ist, ständig wegrutschen und daher für jede Strecke länger brauchen als beispielsweise die Menschen in Nordrhein-Westfalen, die fast zehn Stunden am Tag sitzen.
„Vermutlich lohnt sich dort auch das Aufstehen weniger“, erläutert Carola Traub. „Nordrhein-Westfalen ist zwar groß, aber wenn du einmal im Leben ein paar Minuten herumgelaufen bist, hast du im Grunde ja alles gesehen. Dann kann man auch einfach sitzen bleiben.“
Selbstverständlich sollen die sitzwilligen Menschen nicht alle nach Nordrhein-Westfalen flüchten. „Wir brauchen keine Einwanderung in unser Sitzsystem!“, sind sich die im NRW-Landtag vertretenen, genauer: sitzenden Parteien einig. „Schon gar nicht aus Brandenburg!“ Dazu wird es also nicht kommen. Andere, bundesweite Lösungen sind gefragt. Wie könnten diese aussehen?
„Nicht nur die tägliche Sitzzeit muss im Fokus stehen, sondern die Lebenssitzzeit,“ erläutert Traub. Wer in jungen Jahren zu wenig sitze, könne den Rückstand im Alter nur schwer wieder aufholen. Das Sitzverhalten werde bereits in der frühkindlichen Phase geprägt und ziehe sich dann bei den meisten Menschen durch das gesamte Leben. Die weit verbreitete Vorstellung, wonach man im Blockmodell erst einmal 40 Jahre nicht sitzt und die nächsten 40 Jahre ausschließlich, beruhe auf einer Überschätzung der eigenen Selbststeuerungsfähigkeiten.
„Und wer dann zum Beispiel im Alter von 70 Jahren verstirbt, hat im Grunde zehn Jahre nicht abgesessen, die für eine ausgeglichene Lebenssitzbilanz notwendig wären“, rechnet Carola Traub vor.
Überhaupt müsse man Sitzen als Kulturtechnik wieder stärker in das öffentliche Bewusstsein rufen. „Sitzen hat Potenzial!“ meint die Expertin und schlägt einen Bogen zur Klimadebatte: „Wir müssen vom ökologischen Fußabdruck zum Gesäßabdruck kommen!“ Letzterer sei erheblich weniger umweltschädlich. Sie schlägt vor, die Einnahmen aus der CO2-Abgabe in eine staatliche Sitzzulage fließen zu lassen. „Haushaltstechnisch ist das abbildbar, und es hat eine steuernde Wirkung auf das Verhalten des Einzelnen: Wer viel sitzt, wird finanziell belohnt!“
Als Dogmatiker sehen sich die Mitglieder der Deutschen Sitzliga nicht. „Es muss nicht immer Sitzen sein“, erläutert Traub. So werde mit dem „Bundesverband Liegen, Lümmeln, Lagern“ (BLLL) ebenso vertrauensvoll zusammengearbeitet wie mit der Initiative „Erst mal runterkommen und dann da bleiben e. V.“
Kritisch wird in Fachkreisen der sogenannte Sitzsport gesehen, wenn also im Sitzen Bälle geworfen, Tücher geschwenkt oder Gliedmaßen bewegt werden. „Das nimmt dem Sitzen den Markenkern!“, wird bemängelt. Wer sich im Sitzen ohne überzeugenden Grund bewege, weiche die Grenze zum Nichtsitzen auf. Beim Sitzsport sei das Sitzen nur das Deckmäntelchen für verschiedene Formen körperlicher Aktivität und daher abzulehnen. Doch statt auf Belehrungen und Verbote setzt sie auf Angebote im Alltag. Bei der Arbeit könne man beispielsweise den höhenverstellbaren Schreibtisch mit einem höhenverstellbaren Stuhl koppeln, der automatisch mit nach oben fährt.
Das Sitzen soll als schönes Hobby ein positives Image erhalten
„Das verhindert unerwünschte Stehzeiten im Büro.“ In Sachen Freizeitgestaltung müsse Sitzen als schönes und lohnendes Hobby ein positives Image erhalten. Auch in der Sprache könnten schon kleine Anpassungen zu Veränderungen im Bewusstsein führen: „Wo man sitzt, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen stehen lieber!“ Oder die Umbenennung des Gesäßes in Gesitz! „Um nur ein paar Ideen zu benennen!“, lacht Carola Traub aus ihrem wohnlichen Ikea-Sitzsack „Plomme“ heraus, den sie seit Jahren nicht mehr verlassen hat. „Wozu auch? Wer aufsteht, ist nur zu faul zum Sitzen!“
Mittlerweile existiert auch eine an das IOC gerichtete Petition. „Damit möchten wir die Aufnahme neuer Disziplinen in das olympische Programm anregen.“ Den Begriff „Sportarten“ verwendet Traub bewusst nicht. „Das ginge an der Sache vorbei und würde falsche Erwartungen wecken.“ Man müsse die Dinge schon beim Namen nennen, die da wären: 3.000-Meter-Hindernissitzen, Moderner Fünfschlaf und Mixed Martial Mittagsruhe. Sie selbst sei schon auf einem recht hohen Level angekommen.
„Das Schöne daran ist: Man kann ohne jedes Training vom ersten Tag an absolute Höchstleistungen erreichen!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“