Die Wahrheit: Ehre, wem Ehre gebührt
Orden gibt es nun am laufenden Band. Immer mehr Deutsche werden mit immer mehr Abzeichen behängt.
„Für die Verdienste um unsere Stadt verleihe ich Ihnen den Kleinitzer Verdienstorden. Herzlichen Glückwunsch.“ Bürgermeister Müller hat viel zu tun an diesem Vormittag, 38 Bürgerinnen und Bürger aus dem Thüringischen Kleinitz werden für ihre Leistungen und für ihren Einsatz geehrt. Die Ordensempfänger haben sich im großen Saal des kleinen Rathauses aufgestellt. Müller schreitet die Reihe ab, hängt Orden, überreicht Urkunden und schüttelt Hände. Bäcker sind unter den Ausgezeichneten, Krankenpfleger, Feuerwehrleute, Wurst- und Käse-Fachverkäuferinnen und Zerspanungsmechatroniker.
Müller muss sich beeilen, im klassizistischen Treppenhaus stehen weitere hundert Kleinitzerinnen und Kleinitzer. Und für die Verleihung in der nächsten Woche ist bereits die örtliche Turnhalle des mehrfach ausgezeichneten Kleinitzer Turnvereins reserviert.
Was ist das Besondere an Kleinitz, dass hier so viele Bürgerinnen und Bürger mit Orden geehrt werden? „Eigentlich nichts“, sagt der Bürgermeister, „Bei uns wohnen ganz normale Menschen wie Sie und ich. Aber seit das Gesetz gelockert wurde, haben wir viel mehr Freiheiten bei der Ordensverleihung.“
Neue Arbeitsplätze
Anfang des Jahres wurde auf Initiative des Bundesrates das alte Ordensgesetz gekippt. Seitdem darf jedes Bundesland, jede Stadt neue Orden einführen, eine Obergrenze gibt es nicht. Die Qualität der Provinzorden ist natürlich nicht dieselbe wie die der bekannten Orden. Besteht das Bundesverdienstkreuz aus einem echtgoldbeschichteten Kupferkern mit farbiger Emaille, so ist der Kleinitzer Verdienstorden ein gestanztes Messingblech, das farbig lackiert wurde.
„Wir versuchen, die Kosten gering zu halten, ohne dass die Orden billig aussehen“, sagt Müller. „Deswegen setzen wir auf Masse. Allein hohe Stückzahlen erlauben eine günstige Produktion. Außerdem haben wir durch die Herstellung der Orden neue Arbeitsplätze schaffen können.“ Demnächst können lokale Unternehmen sogar Werbung auf der Ordensrückseite schalten.
Auch im sächsischen Podolski verleiht man gern Blech. Dort will man den sozialen Bereich stärken. So bekamen seit der Gesetzesänderung alle Krankenpflegerinnen und -pfleger im Bundesland den Anhaltiner Pflegeorden zweiter Klasse.
Dekoriert wie ein Sowjet-General
Eine Entwicklung, die die Dienstleistungsgewerkschaft verdi mit Sorge betrachtet. „Es kann nicht sein, dass die arbeitende Bevölkerung mit Orden zweiter Klasse abgespeist wird“, sagt der verdi-Landesgeschäftsführer von Sachsen-Anhalt, Egon Olsen, selbst Träger von drei Thüringer und zwei Anhaltinischen Orden, „wir fordern mindestens einen Orden erster Klasse oder eine regelmäßige Gratifikation in Merci-Schokolade. Oder Toffifee“.
Horst Riexinger, Leiter des sächsischen Ministeriums für Soziales, Senioren, Straßenbau, Schwimmbäder, Familie und Orden, erscheint zum Pressetermin dekoriert wie ein General der ehemaligen Sowjetarmee. Fast alle Orden des Freistaats und etliche aus umliegenden Bundesländern sind auf dem nun extrem schlecht sitzenden Sakko des 63-Jährigen vereint. Laut sächsischem Ordens- und Ehrenzeichen-Gesetz müssen Staatsdiener zu allen offiziellen Gelegenheiten ihre Auszeichnungen tragen. Nur einen Orden hat er nicht. Den Kinderorden.
„Und den kriege ich auch nicht“, lacht Riexinger und erklärt: „Wir haben in Sachsen dieses Nachwuchsproblem wegen der Aus… der Ausnahmesituation hinsichtlich der Mi… ist ja auch egal. Deshalb bekommen alle deutschen Frauen, die ein Kind vorweisen können, das Mutterkreuz … Quatsch, den Sächsischen Nachwuchs-Orden. Einen pro Kind versteht sich. Und einen weiteren, wenn sie zu Hause bleiben und keinen Kitaplatz in Anspruch nehmen.“
Die Wespe für alle
Der sächsische Kinderorden ist allerdings nicht zu verwechseln mit dem Orden, der in Kindergärten des Freistaats Bayern fürs Aufessen, Aufräumen und Aufpassen verliehen wird. Problemkinder bekommen schon einen Orden, wenn sie einen Tag lang nicht geschubst oder gebissen haben. So werden die Kleinen früh an das neue Belohnungssystem herangeführt. Manche Kinder können sich kaum noch bewegen, weil sie so viele Orden um den Hals tragen. Und die Idee schwappt bereits in die Familien. Kinder basteln ihren Eltern Orden aus Pappe und Goldfolie, meist zu Geburtstagen und zum Muttertag.
Derweil führt Horst Riexinger gerade den Allgemeinen Sächsischen Basisorden ein. Voraussetzung dafür ist, deutscher Staatsbürger zu sein und noch überhaupt keinen anderen Orden erhalten zu haben. Riexinger zeigt uns einen Protoyp – ein kleines Metalloval mit schwarzen und gelben Streifen.
„Wir nennen ihn scherzhaft ,die Wespe'.“ Er greift in eine Schublade, holt zwei Orden hervor und steckt uns die beiden Wespen an. „Hier, für ihre hervorragende Arbeit und für den schönen Artikel, den Sie schreiben werden“, sagt er und schüttelt uns die Hand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner