Die Wahrheit: O, du shaun-schönes Schaf!
Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (11): Der wundersame Begriff der „Altersattraktivität“ ist ein oller Hut mit schrumpliger Krempe.
Eines vorweg: Das eigene Alter ist nichts, über das man verfügen könnte. 15 ist 15, und 50 ist 50, dagegen helfen auch keine Küchenweisheiten à la „Man ist nur so alt wie man sich fühlt“. Lebensjahre lassen sich nicht wegfühlen.
Aber darum geht es gar nicht. Denn Altersattraktivität hat nichts gemein mit würdelosem Ankämpfen gegen die unheilige Dreifaltigkeit aus Übergewicht, Bindegewebserschlaffung und Schwerkraft, dem freudlosen Vorhaben, sein Leben dadurch zu verlängern, dass man jeglichen Genuss aus ihm verbannt. Wer nicht mehr isst und trinkt, was ihm schmeckt, wer mit dem Rauchen aufhört, obwohl es ihm Glücksgefühle verschafft, wer sich an – vorgeblich von der Nasa entwickelten – Zug-, Zieh-, Drück- und Spreizgeräten quält und an – vermutlich von Händlern zum ehrenwerten Zweck das Bemessens von Schüttgut entwickelten – eisernen Gewichten zerrt, wer sich von 30 Jahre jüngeren Yogalehrern, die die Verachtung für ihre Klienten hinter einem geschäftsmäßigen Dauergrinsen verbergen, zu Verrenkungen nötigen lässt, die in der Natur nicht grundlos den Wirbellosen vorbehalten sind – der tut möglicherweise seinen Zellen, Faszien, Därmen, Bändern und sonstigem Zodderzeug etwas Gutes, aber nicht sich selbst.
Altersattraktivität, um dies klarzustellen, meint nicht: Jünger wirken als man ist. Sondern mit dem Alter attraktiver werden. Es ist eine Folge des Alterns, kein Täuschungsversuch.
Wenn es zwischen Mitte 40 und Anfang 50 zu grob unvorteilhaften Veränderungen des persönlichen Erscheinungsbildes kommt, könnte sich die Frage stellen, ob es sich dabei lediglich um ein nicht zu vermeidendes Ärgernis auf dem Lebensweg handelt, oder ob sich die gute, alte Evolution etwas dabei gedacht hat. Wenn wir uns die Evolution als weltläufige, geschmackssichere, nicht zu billigen Scherzen neigende ältere Dame vorstellen – die sie ganz zweifellos ist –, so kann die Antwort nur lauten: „Ja, natürlich hat sie das!“
Keine Langeweile beim Canasta-Abend
Die Verkartoffelung und Verschratung, die Schrumpfung und Schrumpelung, die Verkrümmung und Verwarzung, die allgemeine Verunansehnlichung einstmals vorzeigbarer Körper und Gesichter – das macht sie, die Evolution, doch nicht einfach so, aus Langeweile, weil niemand zum Canasta-Abend vorbeikommt! Sondern weil sie uns etwas damit sagen will, etwa: „Ist gut jetzt, geben Sie doch bitte den Platz frei!“
Mit der Idee, seinen komfortablen Platz für jemanden freizugeben, der ihn mehr benötigt oder zumindest mehr damit anfangen kann, hat es der Mensch bekanntlich nicht so. Er verhässlicht lieber, als dass er geht.
Warum aber gilt das nicht für jeden? Wieso gibt es einerseits Menschen, die irgendwann aussehen wie Gollum mit Wampe, während andere mit dem Alter immer attraktiver werden? So wie Sean Connery, der als junger Mann eher hager, asketisch und spitznasig wirkte, später aber, in seinen Sechzigern, zum Sexidol geriet? Oder der junge Leonhard Cohen: schmal und schüchtern wie ein Messdiener, später ein Typ, mit mehr Charisma als in die größten Konzertsäle der Welt passte? Oder Shaun das Schaf, das mit jeder Serienfolge noch rassiger und lustiger wurde?
Keine Notwendigkeit des geckenhaften Gockeln
Die Reihe, die sich mühelos fortsetzen ließe, hat einen ins Auge springenden Makel: Sie enthält nur Männer. Warum ist das so? Gibt es das Phänomen, das Wunder der Altersattraktivität bei Frauen nicht? Denken Frauen, dass die Zeit gegen sie spielt? Meinen sie, sich bestenfalls halten zu können, nach dem Motto „Wer als ältere Frau schön ist, war es auch als junge schon“? Nichts davon ist wahr. Denn tatsächlich haben die meisten Frauen es wohl schlicht nicht nötig, so geckenhaft wie die meisten Männer zu gockeln. Und sie entwickeln eine andere Art Schönheit im Alter – raffinierter, hintergründiger, tiefer. Es soll übrigens auch weltweit einige Männer geben, die das schaffen!
Eine wirklich überzeugende Erklärung sucht die Attraktivitätsforschung aber bis heute vergebens. Fest steht einzig der Befund, dass jeder zweite Mann von sich selbst meint, dass er mit dem Alter attraktiver wird – die anderen glauben, sie waren es schon immer.
Aber auch für diejenigen, die bisher nicht zu den Glücklichen zählten, denen lebensspäte Schönheit zuteil wird, eröffnen sich gerade neue Horizonte. Eine demnächst von der Bundesregierung geförderte Form der Altersattraktivität beruht ungefähr darauf, dass Haushalte, in denen mindestens zwei Hundertzwölfjährige leben, keine Wärmepumpe einbauen müssen, sondern wie bisher den Kanonenofen mit Altreifen, ausgedienten Plastikmöbeln und vollgekackten Windeln aus eigener Produktion beschicken dürfen. Wäre doch gelacht, wenn das die Bereitschaft der Nachkommenschaft zur Aufnahme von Oma und Opa in den eigenen Haushalt nicht entscheidend steigen ließe!
Attraktiv macht sie nicht irgendwelches Blendwerk, ob sie gepflegt und sportlich wirken und so weiter, sondern das reine Alter, der bloße Fakt, dass sie so lange durchgehalten haben. Endlich mal was Ehrliches. Denn auf diese Weise können sich Oma und Opa, wenn für sie im Haus der Kinder das alte Bett des inzwischen erwachsenen Enkels im Keller links hinten neben der Abwasserhebeanlage aufgestellt wird, begehrter fühlen als jemals zuvor.
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